Ein Bild der Harmonie: Ein junger Priester sitzt mit seinen minderjährigen Schützlingen an einem Tisch. Die Teenager schauen jüngerhaft zu ihm auf – ein lebendes Tableau, angelehnt an ikonische Abbildungen des „Abendmahls“. Was der schmucke Pater (Florian Stetter) im Firmunterricht seinen Schützlingen beibringt, hat jedoch wenig mit Jesus‘ Milde zu tun.
Info
Kreuzweg
Regie: Dietrich Brüggemann,
107 Min., Deutschland 2013;
mit: Lea van Acken, Franziska Weisz, Florian Stetter
Bruder kann nicht sprechen
So streng geht es auch in Marias Familie zu. Die Mutter (Franziska Weisz) unterdrückt ihre Tochter ständig aus Angst, sie könne ihrem Einfluss entgleiten. Der Vater hat wenig zu melden. Zudem muss sich Maria als Älteste der vier Geschwister um die anderen kümmern. Ihr vierjähriger Bruder Johannes gilt als Sorgenkind; er kann immer noch nicht sprechen.
Offizieller Filmtrailer
Besuch im Kirchenchor verboten
Marias einzige Vertraute ist das französische Au-Pair-Mädchen Bernadette: Sie hat Verständnis für ihre Probleme. Außerhalb ihrer Glaubens-Gemeinschaft ist Maria ein absoluter Außenseiter, darf an keinen normalen Aktivitäten teilnehmen und hat keine Freunde.
Nur Christian aus der Parallelklasse ihrer Schule interessiert sich für das stille Mädchen und das Geheimnis, das sie umgibt; er lädt sie sogar zu einer Probe seines Kirchenchors ein. Das verbietet ihr die Mutter: Die Gemeinde von Christian sei zu weltlich. So wird Maria immer weiter isoliert – bis sie sich entschließt, ihr Leben völlig Gott hinzugeben, auch um ihren geliebten kleinen Bruder zu retten.
Starre Kamera in jeder Szene
In 14 nach den Stationen des Kreuzwegs benannten Kapiteln erzählt Regisseur Dietrich Brüggemann von religiösem Extremismus, den man eher mit bärtigen, eifernden Männern assoziiert, aber hierzulande für ausgestorben hält. Doch in der süddeutschen Idylle ist noch genug Raum für Rückzug und Abschottung, wie sie diese Glaubensströmung praktiziert – Ähnlichkeiten zur tatsächlich existierenden Pius-Bruderschaft sind beabsichtigt.
Dabei konzentriert sich Brüggemann, der das Drehbuch gemeinsam mit seiner Schwester Anna schrieb, ganz auf Marias Person und ihr Umfeld: mehr beobachtend als mitfühlend. Diesen Eindruck verstärkt ein strenger Bildaufbau. In jeder Kapitel-Szene verlässt die Kamera nie ihre Position; so drehte Brüggemann auch schon seinen Debütfilm „Neun Szenen“ (2006).
Leben aus Angst und Repression
Solche Tableaus lassen dem Zuschauer genug Zeit, sich ausgiebig ein Bild von der Situation zu machen, bis das nächste Kapitel mit einer Schrifttafel beginnt. Das funktioniert hervorragend, wäre aber nicht möglich ohne eine kongeniale Besetzung wie hier. Fast meint man, tatsächlich mit am Tisch zu sitzen und als stiller Beobachter Zeuge von Familienstreit zu sein.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier einen Bericht über den Film "Paradies Glaube" - Porträt einer strenggläubigen Katholikin von Ulrich Seidl
und hier eine Besprechung des Films "Die Nonne" - Verfilmung des Klassikers von Denis Diderot durch Guillaume Nicloux
und hier einen Bericht über die Ausstellung “Kraftwerk Religion – Über Gott und die Menschen” im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden.
Missbrauch am Menschen
So zeigt der Film keinen klassischen Leidensweg, wie der Titel suggerieren mag, sondern eher die unbeirrte Umsetzung einer wahnwitzigen Idee. Am Ende steht Marias Wille, heilig zu werden; auch um von der Mutter stärker akzeptiert zu werden.
Regisseur Brüggemann will die katholische Kirche weder insgesamt noch in ihrer fundamentalistischen Ausprägung angreifen. Vielmehr fragt er, inwieweit solche abgeschlossene Gemeinschaften mit ihren starren, überkommenen Regeln an sich schon Missbrauch am Menschen darstellen.
Da braucht es keine lüsternen Kleriker, die sich an Minderjährigen vergreifen. Allein die psychische Gewalt, die auf Gläubige ausgeübt wird, reicht aus, um tödliche Folgen zu zeitigen. Ein hoch emotionaler und tief berührender Film – auch wenn man das Mädchen gerne mal ordentlich durchschütteln und zur Vernunft bringen würde.