
Kino ist laut Roland Barthes ein „Fest der Affekte“. Kein andere Kunstform wirkt so unmittelbar auf den Betrachter; er ist gleichsam ihr Gefangener. An seinem Platz erlebt er das Geschehen auf der Leinwand genau so, wie der Regisseur es festgelegt hat. Wehren kann er sich nur, indem er die Augen schließt oder den Saal verlässt.
Info
Echte Gefühle:
Denken im Film
23.02.2014 - 27.04.2014
täglich außer dienstags
12 bis 19 Uhr,
donnerstags bis 21 Uhr
im KW Institute for Contemporary Art (Kunst-Werke Berlin), Auguststraße 69, Berlin
Nur Dein Gefühl entscheidet
Dieses Kraftwerk der Gefühle breiten die Kunst-Werke in allen Einzelteilen aus. Die Kuratoren beanspruchen, einen Total-Überblick über die Emotions-Erzeugung im Kino zu geben. Ihnen zufolge entscheidet die Darstellung von Gefühlen darüber, ob ein Film als plausibel und echt empfunden werde – was die Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinflusse: Life is what has been seen on screen.
Impressionen der Ausstellung
72 Kino-Ausschnitte + 12 Kunst-Filme
Um diese kühne These in allen Aspekten zu beleuchten, ist die Ausstellung zweigeteilt. Im „Archiv der Gefühle“ werden nicht weniger als 72 Film-Ausschnitte des „Erzählkinos“ vorgeführt, in denen je eine elementare Emotion im Zentrum steht: von Liebe und Angst bis zu Verachtung und Mitgefühl. Als Querschnitt durch das Nachkriegs-Kino von Autorenfilm-Klassikern wie Godard und Fassbinder bis zu blockbusters wie „Der Pate“ und „Titanic“.
Den Kontrapunkt bilden zwölf Filme von 13 Künstlern, die unvermeidlich „Sehgewohnheiten aufbrechen“ sollen, indem sie Konventionen des Kommerz-Kinos ad absurdum führen. Wer das komplett nachvollziehen will, muss viel Zeit mitbringen: Die Gesamtlaufzeit aller 72 Archiv-Schnipsel liegt bei rund drei Stunden.
Neun Liebes-Szenen für Voyeure + Erotomane
Das Dutzend Kunst-Filme kommt zusammen auf siebeneinhalb Stunden Spielzeit. Rechnet man die Doku „Jeanne Dielman“ von 1975 heraus, in der Chantal Akerman 200 Minuten lang in Echtzeit eine Frau in ihrer Wohnung filmte, bleiben immer noch vier Stunden übrig. Alles in allem ein ganzer Arbeitstag, um die Mechanik der Gefühle auf der Leinwand zu verstehen.
Was lohnend wäre, hätte man sie danach ein für allemal begriffen. Doch das fällt schwer: Das Gefühls-Archiv entpuppt sich als düsterer Irrgarten voller Monitore, auf denen die Filmausschnitte mal nacheinander, mal gleichzeitig ablaufen. Neun Liebes-Szenen gleichzeitig zu beobachten, dürfte nur Voyeure und Erotomane ansprechen.
Tafeln unlesbar ohne Nachtsichtgerät
Zwar werden visuelle Stereotypen überdeutlich: Alle vor Angst verzerrten Gesichter ähneln einander. Subtilere Gefühlsregungen, etwa Scham, erschließen sich aber nur, wenn man den Kontext kennt. Den erläutern im dunklen Projektionsraum kleine Tafeln mit dunkelgrauer Schrift auf schwarzem Grund – schlecht lesbar ohne Nachtsichtgerät.
Zudem sind manche Kategorien unscharf. Die Emotion „Langeweile“ soll erstens ein slacker aus „Exotica“ (1994) von Atom Egoyan darstellen, der gähnend eine Glühbirne an- und ausknipst; zweitens ein minutenlanges Monster-Massaker aus „Starship Troopers“ (1997).
Unten Bildsalat, oben Projektionsräume
Die Filmkritik hält Paul Verhoevens science fiction-Spektakel für ein extrem ödes Beispiel des sinnfreien popcorn-Kinos, aber action-Fans sehen das wohl anders. Ob dabei ennui aufkommt, hängt mehr von Publikums-Erwartungen ab als vom Inhalt. Auch die Darstellung von Langeweile darf nicht langweilig sein, lautet eine alte Theater-Regel.
Das gilt auch für dieses Sammelsurium. Cineasten werden darin wenig Neues entdecken: Die ausgewählten Szenen sind zu bekannt und ihre Zusammenstellung zu beliebig. Ergiebiger wäre, Varianten ausgewählter Emotionen eingehend zu analysieren: Ändern sich mit Entstehungszeit und Genre die filmische Darstellung etwa von Küssen, Wutausbrüchen oder Schreckensregungen – und falls ja, warum? Doch hier flimmert Bildsalat.
Erdbeerfrosch hüpft, Gips-Kopie küsst
Anders bei den Kunst-Filmen: Jeder erhält einen eigenen Projektionsraum, verteilt auf drei Etagen. Ebenso viele Schlagworte taugen jedoch kaum als thematische Klammern: Als „Hauptdarsteller“ hüpft bei Ed Atkins und Simon Martin ein Erdbeerfrosch; Sue de Beer küsst eine Gips-Kopie ihrer selbst, die irritierend blinzelt, und Christian Jankowski interviewt Möchtegern-Schauspieler.
Für die „Intensität von Gefühlen“ müssen Jesper Just herhalten, der Männer zu Musik tanzen lässt; John Smith, der sich selbst filmend durch ein Hotel stapft, sowie Akermans Dreieinhalb-Stunden-Echtzeit-Marathon – so kann der Betrachter die Empfindung ereignisloser Leere bis zur Neige auskosten.
90 Prozent der Leinwand schwärzen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Festivals "Kino der Kunst" - über und mit Filmen bildender Künstler in München
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Fassbinder - Jetzt: Film und Videokunst" - mit Werken von Jesper Just im Deutschen Filmmuseum, Frankfurt am Main
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Martin Scorsese" - weltweit erste Werkschau des Regisseurs im Museum für Film und Fernsehen, Berlin
Eher fragt man sich, was das alles mit dem Thema zu tun hat. Klar, irgendwie geht es immer um Gefühle: Das war auch schon so bei Höhlenmalerei in der Steinzeit und Minneliedern im Mittelalter. Wie heutzutage die Traumfabrik Kino Emotionen produziert, manipuliert und damit standardisiert, schwirrt in Andeutungen überall herum, wird aber nirgends recht fassbar. Bald stellt sich ein Gefühl der Konfusion ein.
Klippschule oder Enzyklopädie?
Und man rätselt über den Sinn dieser Veranstaltung: Soll das eine filmwissenschaftliche Klippschule sein, aus der jeder ein paar Erkenntnis-Brocken mitnimmt? Oder eine Enzyklopädie kinematographischer Bildsprachen, der leider die Mittel für den zehnfachen Umfang fehlen, welcher nötig wäre, um ihren Anspruch zu erfüllen?
In einer Enzyklopädie schlägt man ein Stichwort nach und ignoriert den Rest. In einer Ausstellung will man beim Rundgang bündig über das Sujet informiert werden. Diese Schau macht sich selbst entbehrlich: Filmschnipsel sichten geht bei Youtube schneller.