Ralph Fiennes

The Invisible Woman

Felicity Jones ("Nelly Ternan") und Ralph Fiennes ("Charles Dickens") kommen sich näher. Foto: © 2014 Sony Pictures Releasing GmbH
(Kinostart: 24.4.) Der diskrete Charme der Doppelmoral: Charles Dickens, Star-Sozialkritiker der englischen Literatur, hatte lange eine heimliche Geliebte. Das enthüllt Ralph Fiennes als Regisseur mit Paraderolle in einem präzisen Sittengemälde.

Mitte des 19. Jahrhunderts war Charles Dickens ein Idol der englischsprachigen Welt. Seine Romane erreichten enorme Auflagen; seine Bühnen-Inszenierungen liefen vor ausverkauften Sälen. Bei Lesungen lauschten ihm Tausende – nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Nordamerika.

 

Info

 

The Invisible Woman

 

Regie: Ralph Fiennes,

111 Min., USA 2013;

mit: Ralph Fiennes, Felicity Jones, Kristin Scott Thomas

 

Website zum Film

 

Den vom Erfolg verwöhnten Großschriftsteller spielt Ralph Fiennes mit unwiderstehlichem Charme. Für seine zweite Regiearbeit schlüpft er in eine Glanzrolle: als Literatur-Impresario, der vor Energie, Esprit und Ironie nur so sprüht. Alle hängen an seinen Lippen, wenn er mit Wortakrobatik um sich wirft; seiner Ausstrahlung kann sich niemand entziehen.

 

Von Ersatz-Aktrice hingerissen

 

Doch selbst ein gefeierter pop star darf sich keine groupies leisten: Da kennt die sittenstrenge viktorianische Gesellschaft kein Pardon. Das bringt den 45-Jährigen in Bedrängnis, als er 1857 Ellen Ternan (Felicity Jones) kennen lernt. Die 18-Jährige aus einer Schauspieler-Familie springt bei einer Theater-Aufführung für ihre Schwester ein. Dickens ist hingerissen.


Offizieller Filmtrailer


 

Wie Schmetterling schwirrende Kamera

 

Ebenso die Kamera: Wie ein Schmetterling umschwirrt sie Ellen und kann sich an ihrer jungen Mädchenblüte nicht satt sehen. Die züchtig bedeckt bleibt; eingehüllt in wogende Glockenröcke, Rüschen, Bänder und Häubchen. Näher kommen die begehrlichen Blicke ihres Verehrers erst einmal nicht. Ein Kussversuch scheitert nach langem, tastenden Umkreisen.

 

Mutter Ternan (Kristin Scott Thomas) und ihre drei Töchter schlagen sich mit wechselnden Engagements mehr schlecht als recht durch. Das ändert ihr vermögender Gönner: Er quartiert sie in einer komfortablen Wohnung ein und wirbt mit teuren Geschenken um Ellens Gunst. Die parliert mit ihm leidenschaftlich über Literatur, bleibt aber ansonsten reserviert: Sie will sich nicht zur Mätresse eines verheirateten Mannes degradieren lassen. Der bleibt beharrlich.

 

Trennung von Frau + zehn Kindern

 

Es gibt zwar noch keine paparazzi, doch eine brodelnde Gerüchteküche, die schnell überkocht. Dickens trennt sich von seiner Frau, die ihm zehn Kinder gebar, und gibt neun davon in die Obhut seiner Schwägerin. Danach flieht er mit seiner Geliebten zum honeymoon nach Nordfrankreich; ihre Schwangerschaft endet mit einer Totgeburt.

 

Zurück in England gerät das Paar in ein schweres Eisenbahnunglück. Ellen ist verletzt, doch Dickens leugnet, sie zu kennen – aus Sorge um seinen Ruf. Nach ihrer Genesung bringt er sie standesgemäß auf dem Land unter; für die Öffentlichkeit muss sie unsichtbar bleiben. Dieses geheime Arrangement dauert an, bis der Autor 1870 stirbt.

 

Muse im Privat-Reservat

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films “Große Erwartungen” – Mike Newells werkgetreue Verfilmung des Klassikers von Charles Dickens mit Ralph Fiennes

 

und hier einen Bericht über den Film “Anna Karenina” von Joe Wright mit Keira Knightley nach dem Klassiker von Leo Tolstoi

 

und hier einen Beitrag über den Historien-Film "Albert Nobbs" von Rodrigo García mit Glenn Close als Mann-Frau in der viktorianischen Ära.

 

Die langen Jahre von Ellens Luxus-Gefangenschaft spart das präzise und makellos ausgestattete period piece aus. Fiennes konzentriert sich auf den Anfang der Affäre, der schon bald kein Zauber mehr innewohnt. Für eine Charakterstudie: Wie der literarische Vorkämpfer sozialer Gerechtigkeit jede Verantwortung für seine Familie abschüttelt, um seinen zweiten Frühling auszukosten. Wie er seine Muse ins Privat-Reservat wegsperrt und zugleich als Figur in seinen nächsten Roman einbaut: „Große Erwartungen“ handelt auch von der mesalliance eines Mäzens.

 

Da hat der Wortmagier sichtbar sein Charisma verloren – und Fiennes als Regisseur die Seiten gewechselt. Er bietet den Frauen in Dickens‘ Umfeld viel Raum, um weibliche Perspektiven zu entfalten: von seiner Gattin, die ihr Los als Verstoßene gefasst auf sich nimmt, bis zu Ellens Mutter, die mit sich ringt, ob sie ihr Kind dem reichen Verführer überlassen soll. Warum die Tochter sich in das Schattendasein an seiner Seite fügt, bleibt unergründet.

 

Von Dickens lügen lernen

 

Anders als ihre zweite Existenz nach seinem Tod, die eine Rahmenhandlung schildert. Ellen führt ein neues Leben: als allseits geachtete Frau des Schulleiters in einem Küstenstädtchen. Ihren Mann lässt sie im Glauben, sie interessiere sich für Dickens, weil sie ihn als Mädchen einmal kurz getroffen habe. Wie man das glaubwürdig vortäuscht, hat sie von ihm gelernt.