Er kultivierte einen rock’n’roll lifestyle, bevor es das Wort überhaupt gab. Da er sein halbes Leben in Frankreich verbracht hat, spricht man besser von einer radikalen bohémien-Existenz. Dazu passte sein biederer Taufname Alfred Otto Wolfgang Schulze (1913–1951) schlecht. Also signierte er seine Werke mit WOLS.
Info
Wols –
Aufbruch nach 1945
14.03.2014 - 15.06.2014
täglich außer montags
10 bis 17 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr in der Neuen Galerie, Schöne Aussicht 1, Kassel
Katalog 24,95 €
Wols Photograph:
Der gerettete Blick
15.03.2014 - 22.06.2014
täglich außer dienstags
10 bis 19 Uhr
im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, Berlin
Katalog 33 €
Modepuppen auf Weltausstellung
Nach drei Jahren in Spanien kehren beide 1936 nach Paris zurück. Wols arbeitet erfolgreich als Fotograf, porträtiert Berühmtheiten wie Max Ernst und wird beauftragt, auf der Weltausstellung den Pavillon de l’Élégance zu dokumentieren. Den zeigt er als bizarren Modepuppen-Irrgarten, ein Vexierspiel aus Torsi und Schatten; seine Aufnahmen verkaufen sich als Postkarten blendend.
Dann beginnt der Zweite Weltkrieg; als „feindlicher Ausländer“ wird Wols 14 Monate lang in diversen Lagern interniert. Das schadet seiner Gesundheit und befördert seine Kunst: Er verfällt allmählich dem Alkohol und fertigt zugleich Zeichnungen und Aquarelle an. Ab 1942 versteckt er sich mit Gréty in Südfrankreich bis Kriegsende.
„Wols hatte alles vernichtet“
1945 hat Wols die erste von zwei Ausstellungen zu Lebzeiten: Die Pariser Galerie Drouin zeigt 50 Grafiken. Sein Galerist ermutigt ihn, auch in Öl zu malen; der Künstler stürzt sich in einen Schaffensrausch. 1947 folgt die Aufsehen erregende zweite Schau in derselben Galerie. „Wols hatte alles vernichtet. Nach Wols war alles neu zu machen“, notiert der französische Maler Georges Mathieu „ganz erschüttert“ nach seinem Besuch.
Impressionen der Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin
Sartre zahlt Hotelrechnungen von Wols
Mathieus postapokalyptisches Pathos mag heute übertrieben scheinen, doch das Interesse an Wols‘ Arbeiten wächst schlagartig. Er nimmt an größeren Gruppenausstellungen teil. Verleger lassen ihn Schriften von Antonin Artaud, Kafka oder Jean-Paul Sartre mit Radierungen illustrieren. Der Vordenker des Existentialismus begleicht zuweilen seine Hotelrechnungen, wenn Wols nicht zahlen kann.
Was oft vorkommt: Obwohl sich Gréty etliche seiner Werke verkauft, ist der Künstler chronisch pleite und muss häufig das Quartier wechseln. Nichtsdestoweniger zieht der Nonkonformist nachts durch Jazz-Clubs. 1951 fordert der Alkohol seinen Tribut: Bei angegriffener Gesundheit stirbt er mit nur 38 Jahren an Fleischvergiftung. Bald darauf wird er als peintre maudit zum Mythos und zum Gründervater des Informel erhoben, der vorherrschenden Kunstrichtung der 1950er Jahre.
Anfangs vom Surrealismus beeinflusst
Die Popularität dieses auch Tachismus genannten Stils ist ebenso verblasst wie der Nachruhm von Wols. Doch aus Anlass seines 100. Geburtstags präsentieren bundesweit Museen sein Gesamtwerk – und beleuchten überraschende Aspekte. Nach Retrospektiven 2013 in Bremen und Wiesbaden folgen nun die Neue Galerie in Kassel mit Bildern aus der Nachkriegszeit und der Martin-Gropius-Bau mit Fotografien, die im Vorjahr bereits in Dresden zu sehen waren.
Die Kasseler Ausstellung konzentriert sich auf Wols‘ kleinformatige Arbeiten: Zeichnungen, Aquarelle und Radierungen. Eine chronologischer Hängung veranschaulicht, wie seine Grafik anfangs noch vom Surrealismus beeinflusst war: Liebliche Pastellfarben deuten Räume an, in denen sich fantastische Fabelwesen tummeln. Allerlei Auswüchse verleihen ihnen etwas unheimlich Abgründiges.
Mikroben im Mikroskop, Gestirne im Teleskop
Diese Protuberanzen drängen allmählich das Figurative zurück und gewinnen ein Eigenleben: Sie komprimieren sich zur zentralen Form, die der Künstler oft mittig aufs Papier setzt. In ihr schlängelt und ballt sich ein dichtes Gewirr aus Linien, lässt Auswüchse entstehen oder verdichtet sich zu feinsten Binnenstrukturen, die keineswegs zufällig entstehen.
Wols gab seinen Arbeiten meist keine Titel und verwahrte sich gegen Interpretationen: Man solle einfach wahrnehmen, „was ist“. Dabei lösen viele seiner Bilder in teils giftigen Farben sofort Assoziationen aus. Sie erinnern an Geschlechtsteile, innere Organe oder Großbauten – die in ihrer Verschachtelung so visionär wie bedrohlich wirken: wie Blicke durch Mikroskope auf Mikroben oder durch Teleskope auf ferne Gestirne.
Jeder hat alle subjektiven Freiheiten
Mit diesen fremdartigen Gebilden lässt das Museum die Besucher nicht allein: Kurze Legenden erläutern jedes Werk mustergültig. Zugleich lässt die Unbestimmbarkeit dieser Formen dem Künstler wie dem Betrachter alle subjektiven Freiheiten.
Für diese Befreiung der Formen vom Diktat, etwas Konkretes darzustellen oder Eindeutiges auszudrücken, wurde Wols von seinen Zeitgenossen bewundert. In der Nachkriegszeit ließ der Wunsch nach tabula rasa Künstler nach völlig neuen Bildsprachen suchen, die alles Geläufige hinter sich lassen sollten.