Kassel + Berlin

Wols – Aufbruch nach 1945 + Photograph: Der gerettete Blick

Wols: Ohne Titel [Paris – Flohmarkt]; Herbst 1932 / Januar 1936, © VG Bild-Kunst, Bonn 2014. Quelle: Martin-Gropius-Bau
Sehen, was ist: Der früh verstorbene Informel-Künstler fotografierte unscheinbare Strukturen und schuf als Grafiker fantastische Gebilde, die als große Befreiung galten. Zwei Werkschauen in Neuer Galerie und Gropius-Bau ergänzen sich hervorragend.

Oberflächen-Muster + Farbschlachten

 

Wie stark Wols‘ Werk unmittelbar nach seinem Tod andere Maler beeinflusste, führt die Neue Galerie überzeugend vor. Sein Interesse an organischen Strukturen trieb Jean Dubuffet als Wortführer des Art Brut systematisch voran: Er sammelte Oberflächen-Muster aller Art. Jean Fautrier fühlte sich von Wols zu plastisch gespachtelten Farbschlachten angeregt.

 

Bernard Schultze, Hauptvertreter des deutschen Informel, übernahm von Wols die Kombination aus kleinteiliger Linienführung und großflächigen Farbverläufen. Sein Kollege Emil Schumacher entdeckte durch ihn die Materialität der Farbe: Mit Ritzungen, Schaben und Eindrücken bearbeitete er Leinwände wie dreidimensionale Objekte.

 

Ölgemälde wie Pigment-Eintöpfe

 

Deutsche Künstler lernten Wols umfassend auf der documenta I (1955) und II (1959) kennen; dort waren insgesamt 60 seiner Arbeiten zu sehen, vor allem Gemälde. Wie sie präsentiert wurden, kann die Neue Galerie leicht rekonstruieren: Sie ist bis heute der Heimathafen dieses Groß-Spektakels der Gegenwartskunst.

 

Nachvollziehbar wird, warum das Publikum die Malerei des Informel rasch als nichtssagend und belanglos empfand. Wols‘ Ölbildern fehlt oft der fein austarierte und spannungsvolle Kontrast seiner Grafik zwischen filigranen Federstrichen und großzügigem Farbfluss; flüchtig besehen, wirken die Bilder manchmal wie chaotisch verrührte Pigment-Eintöpfe.

 

Mit Fotografie zum Formen-Kosmos

 

Zu seinem eigenen Formen-Kosmos fand Wols durch die Fotografie: Das zeigt hervorragend die Ausstellung „Der gerettete Blick“ im Martin-Gropius-Bau mit rund 700 Abzügen aus dem Dresdener Kupferstich-Kabinett, wo diese Sammlung verwahrt wird. Seine ersten Gehversuche als Fotograf in Paris sind konventionell: Er fertigt Porträt-Serien von Freunden und Bekannten an, die sich vor der Kamera mal lässig, mal mondän in Pose werfen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "K.O. Götz" - große Retrospektive zum 100. Geburtstag des Informel-Malers in Berlin, Duisburg + Wiesbaden

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Brassaï Brassaï. Im Atelier & Auf der Straße" - Retrospektive des Pariser Künstler-Fotografen mit Werken von Jean Dubuffet im Museum Berggruen + der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Berlin.

 

und hier einen Bericht über den Vortrag von Tom McDonough über die "Situationistische Internationale" im Paris der 1950er Jahre auf den “Künstler-Kongressen” der dOCUMENTA (13).

 

Sobald er seine Modelle die Augen schließen lässt, wird ein eigener Stilwille erkennbar: Wols inszeniert sie als ätherische, traumverlorene Gestalten. Ähnlich seine Stadtansichten: Anfangs unterscheiden sich seine Schnappschüsse wenig von denen seiner Kollegen des „Neuen Sehens“, die pittoreske Momente aus ungewöhnlichen Perspektiven ablichten.

 

Gemüse als Schattenreich-Wesen

 

Allmählich ändert Wols sein Vorgehen: Er wählt immer unscheinbarere Sujets, die er immer spektakulärer aufnimmt. Zwei clochards auf einer Kaimauer sind in extremer Draufsicht kaum erkennbar – wichtig sind Socken und Hose, die Meter entfernt zum Trocknen ausliegen. Oder die Kamera sinkt auf Knöchelhöhe herab und erfasst das unregelmäßige Muster des Straßenpflasters.

 

Wenn Wols unleserliche Plakatfetzen an Zäunen und Mauern fotografiert, erreichen diese Bilder fast schon den Abstraktionsgrad seiner späteren Grafik. Ebenso seine Motive aus der Küche: Bohnen, Pilze oder Zwiebeln sehen wie seltsame Wesen aus dem Schattenreich aus. Ein bratfertiges Kaninchen oder gerupftes Geflügel erscheinen wie Furcht erregende aliens.

 

Am Nullpunkt der bildenden Künste

 

Indem er solche Dinge jeder Bedeutung entblößt und auf das Zusammenspiel heller und dunkler Zonen reduziert, steigt Wols zum Nullpunkt der bildenden Künste hinab: Schön oder hässlich, wohlgeformt oder missraten sind hier keine sinnvollen Kategorien mehr.

 

Es geht nur noch um die Wahrnehmung dessen, „was ist“ – alles kann zum Objekt der Anschauung werden. Ein Credo, dem Legionen heutiger Jungkünstler folgen: Insofern hat der Frühverstorbene postum viel mehr Schüler inspiriert als die meisten seiner Nachfolger.