Frankfurt am Main

Emil Nolde – Retrospektive

Fremder Mann und drei nackte Frauen (Detail), 1938/45; Aquarell auf Japan-Papier, © Nolde Stiftung Seebül. Foto: Städel Museum
Nazi-Opfer oder Mitläufer? Vor allem letzteres, zeigt das Städel Museum mit dem ersten Rückblick auf Noldes Riesenwerk seit 25 Jahren. Der Opportunist und Hitler-Bewunderer log und denunzierte skrupellos – aber ging künstlerisch unbeirrt seinen Weg.

Ausländer bekam entartete Kunst zurück

 

1937 konfiszierten die Nazis mehr als 1000 (!) seiner Arbeiten aus deutschen Museen: 50 davon wurden in der Feme-Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Unter dem Schmähspruch „Gemaltes Hexenwerk“ hing sein neunteiliges Hauptwerk „Das Leben Christi“ von 1911/12; dieses Polyptychon, das an einen mittelalterlichen Flügelaltar erinnert, ist nun ebenfalls im Städel zu sehen.

 

Nach der Schau erhielt Nolde die meisten Werke zurück – weil er Goebbels brieflich an seinen ausländischen Pass erinnerte. Er blieb gut im Geschäft und verdiente jährlich mehr als 50.000 Reichsmark. Doch 1941 verhängte die Reichskulturkammer über ihn ein Berufsverbot. Nolde durfte nicht mehr ausstellen; er konnte nur noch privat weiter malen.

 

Kollegen in NS-Zeit als Juden angeschwärzt

 

Weshalb er nach Kriegsende die Chuzpe hatte, bei den Behörden einen Entschädigungsantrag zu stellen; der wurde wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft abgelehnt. Das glich der Kunstbetrieb jedoch umso großzügiger aus: mit Preisen und Ankäufen, sogar für den Regierungssitz. Nolde stieg zum bundesdeutschen Vorzeigekünstler auf; seine blumigen Farbexplosionen wurden als stiller Widerstand gegen das Dritte Reich verklärt.

 

Es lohnt sich, Noldes Verstrickungen – die der vorzügliche Katalog nüchtern abwägend erläutert – detailliert wahrzunehmen. Viele Zitate aus seinen Schriften sind widerwärtig verlogen und selbstgerecht: Ihr Autor erscheint als ungeheuerlicher Opportunist, der mit seltenem Geschick Andere hofierte oder skrupellos denunzierte. Er schreckte nicht davor zurück, missliebige Kollegen in der NS-Zeit als Juden anzuschwärzen. Dennoch schuf dieser eingefleischte Hitler-Bewunderer bedeutende Kunst.

 

Gut verkaufte „Bergpostkarten“-Karikaturen

 

Was man dem Frühwerk nicht ansieht: Nolde, von bäuerlicher Herkunft, ist ein Spätberufener. Als 25-jähriger Autodidakt wird er 1892 Lehrer in der Schweiz; dort zeichnet er „Bergpostkarten“-Karikaturen, die sich gut verkaufen. An seinem ersten Bild mit grotesken „Bergriesen“ arbeitet er zwei Jahre lang. In Alsen orientiert er sich an dänischen Malern der Skagener Künstlerkolonie mit ihrem lichten Realismus in fahlen Farbtönen.

 

1904 hat Nolde erstmals Erfolg: Der Mäzen Karl Ernst Osthaus kauft für das Folkwang Museum „Frühling im Zimmer“, ein Interieur-Porträt seiner Frau Ada in locker impressionistischer Malweise. Nun entdeckt der Künstler Garten-Ansichten als Sujet: Seine Malweise orientiert sich an Van Gogh; die Farben werden reiner, der Duktus beschwingter.

 

460-Werke-Schau in fünf Großstädten

 

Ab 1906 geht Nolde zu flächigem Farbauftrag über; sein Körper-Auffassung wird immer summarischer. Diese Figuren und Porträts wirken auf manche Betrachter expressiv, auf seine Kritiker fratzenhaft. Insbesondere bei religiösen Motiven, die ab 1910 in rascher Folge entstehen, sind die Meinungen gespalten – teils werden sie als Ausdruck reiner Geistigkeit empfunden, teils als roh und primitiv.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Dänemarks Aufbruch in die Moderne" mit Bildern der Skagener Künstlerkolonie in der Hamburger Kunsthalle

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung “1914 – Die Avantgarden im Kampf” - mit Werken von Emil Nolde in der Bundeskunsthalle, Bonn

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Blickwechsel: Pioniere der Moderne"  - mit Werken von Emil Nolde in der Neuen Pinakothek, München

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Geschichten im Konflikt" - über die NS-Kulturpolitik + die Feme-Schau "Entartete Kunst" im Haus der Kunst, München.

 

Unbeirrt bleibt Nolde seinem Stil treu; mit geduldigem Antichambrieren bei Meinungsmachern steigt er zum Großkünstler der Weimarer Zeit auf. Zur Feier seines 60. Geburtstags tourt 1927 eine Jubiläums-Ausstellung mit 460 Arbeiten durch fünf deutsche Großstädte – Nolde ist auf dem Zenit seines Ansehens.

 

Ungemalte Bilder sind die besten

 

Am Tiefpunkt, während des Weltkriegs in Seebüll isoliert, schafft er seine vielleicht besten Werke: Dort entstehen zwischen 1938 und 1945 die so genannten „Ungemalten Bilder“. Da er kaum an Ölfarben und Leinwand herankommt, verlegt er sich auf kleinformatige Aquarelle – in sieben Jahren entstehen rund 1300 undatierte Exemplare.

 

Hier lässt Nolde seiner überbordenden Kreativität freien Lauf. Er benutzt stark saugendes Japan-Papier, auf dem aufgetragene Farbe kaum kontrollierbar verläuft; so malt auch der Zufall mit. Herbe, kühne Kompositionen mit fantastischen Gebilden und überraschenden Kontrasten entstehen; weniger gefällig und dekorativ als sein Salon-Expressionismus, der oft rein auf Farbkonsonanz ausgerichtet ist – und nach dem Krieg so beliebt wie zuvor.

 

Maßgeblich amoralischer Künstler

 

So wird im Städel das Gesamtwerk eines Mannes ausbreitet, der fragwürdiger und populärer kaum sein könnte. Der als Rand-Existenz – als Grenzlandbewohner, im Kunstbetrieb und als schlangenhaft ehrloser Charakter – sich zum romantischen Künstler-Genie in sturmumtoster Einsiedelei stilisierte, mit dem sich bis heute unzählige Bewunderer identifizieren können. Insofern ist Nolde vielleicht der maßgeblichste deutsche Maler des 20. Jahrhunderts – denn Kunst ist amoralisch.