Bonn

Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde

Der Schnitter (Detail), 1912, Öl auf Leinwand. Foto: Bundeskunsthalle
Der Stalin der Malerei: Malewitsch trieb den Rigorismus der klassischen Moderne auf die Spitze. Dem Erfinder des Suprematismus widmet die Bundeskunsthalle eine glänzend bestückte Retrospektive – mit Werken aller Phasen vor und nach dem Schwarzen Quadrat.

Das schwarze Quadrat als Bild Gottes

 

Nicht zufällig: Der Künstler spricht seiner Schöpfung eine Bedeutung zu, die der christlichen Religion quasi gleichkommt. Seine Schriften strotzen vor vollmundigen Formulierungen wie: „Die Dinge sind verschwunden wie Rauch für eine neue künstlerische Kultur“. Oder: „Von Malerei kann im Suprematismus keine Rede mehr sein“.

 

Aber was dann? „Mir kam in den Sinn, dass, wenn die Menschheit das Bild der Gottheit nach dem eigenen Bild gemalt hat, das schwarze Quadrat das Bild Gottes als Wesen seiner Vollkommenheit ist.“ Und Malewitsch ist sein Prophet. Diese Mission nimmt er ab 1919 tatkräftig wahr: erst als Dozent an der Kunstschule von Witebsk, die Marc Chagall leitet, ab 1923 am Staatlichen Kulturinstitut in Petrograd.

 

Straßen-Schmuck + Farb-Studien

 

Dort findet er unter den Studenten zahlreiche Jünger. In Witebsk dekorieren sie die Straßen an revolutionären Feiertagen mit suprematistischem Wandschmuck; in Petrograd erstellen sie Studien zur Farbwahrnehmung. Malewitsch arbeitet mit Kollegen wie El Lissitzky oder Gustav Klucis zusammen und entwirft „Architektona“: dreidimensionale Bau-Modelle, die an frühe Wolkenkratzer erinnern.

 

Dass diese Experimentierwütigen die Kultur eines Landes voller Analphabeten umkrempeln wollen, behagt den Bolschewiki nicht: Lenins Kunstverständnis ist kleinbürgerlich geprägt, das von Stalin – der im Priesterseminar erzogen wurde – noch engstirniger. 1926 wird das Petrograder Institut geschlossen. Malewitsch reist nach Warschau und Berlin, findet aber wenig Resonanz. Nach der Rückkehr wird er 1930 verhaftet und verhört: Die Große Säuberung kündigt sich an.

 

Drei Malweisen gleichzeitig praktizieren

 

In dieser Zeit wendet er sich nach zehn Jahren Pause wieder der Kunst zu – und schafft seine eigenartigsten Werke. Er praktiziert drei Malweisen gleichzeitig. Erstens fertigt er stilisierte Landschaften mit schematisch anonymen Figuren an; sie gleichen Gliederpuppen oder rustikalen Gesellen seiner Neoprimitivismus-Bilder. Manche Interpreten sehen darin eine Hommage an Russlands Bauern, die unter der brutalen Kollektivierung leiden.

 

Zugleich malt er Bildnisse mit Renaissance-Gesichtern und Körpern in suprematistischer Farbgebung; manche signiert er mit einem kleinen schwarzen Quadrat. Drittens pinselt er für den Hausgebrauch konventionell realistische Porträts von seiner Familie und Freunden. Welchem Stil er auf Dauer den Vorzug gäbe, bleibt offen: 1935 stirbt Malewitsch an Magenkrebs.

 

Bewaffnete Avantgarde erledigt die pinselnde

 

Sein früher Tod ersparte ihm nicht nur stalinistische Repression, sondern verschaffte ihm auch einen Ehrenplatz im Pantheon der Moderne: Der Suprematismus-Stifter galt lange als radikalster aller Kunst-Revolutionäre. Dass dieser Stil nur eine – wenn auch wichtige – von mehreren Werkphasen war, wurde ebenso vernachlässigt wie die parareligiösen Absichten, die Malewitsch damit verband.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "1914 – Die Avantgarden im Kampf"  - mit Werken von Malewitsch in der Bundeskunsthalle, Bonn

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Schwestern der Revolution" - über die Künstlerinnen der russischen Avantgarde im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen

 

und hier einen Bericht über den Vortrag von Kunsthistorikerin Jekaterina Degot zur revolutionären Staatskunst in der Sowjetunion auf der dOCUMENTA (13)

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Baumeister der Revolution" - zur sowjetischen Avantgarde-Kunst und Architektur 1915 – 1935 im Martin-Gropius-Bau, Berlin.

 

Als die russische Avantgarde in den 1980er Jahren neu gesichtet wurde, betonten Kunsthistoriker wie Boris Groys ihren maßlosen Geltungsanspruch. Im Grunde wollten diese Künstler die Gesellschaft genauso totalitär umgestalten wie Stalin und die Tscheka – doch mit untauglichen Mitteln: Flugschriften und Palette traten gegen Folterkammern und Gulag an. Kein Wunder, dass die bewaffnete Avantgarde des Proletariats mit der pinselnden kurzen Schauprozess machte.

 

Musterbeispiel eines russischen Heiligen

 

Und damit zu Märtyrern der Kunst, wofür Malewitsch ein Musterbeispiel abgibt. Seine Vita erfüllt alle Kriterien einer russischen Heiligen-Legende: Verarmt und wurzellos, zog er mit seiner Familie oft um und hauste unter kargen Bedingungen. Was ihn nicht hinderte, unentwegt Aufsätze zu verfassen, die wirre Welterlösungs-Theorien mit orthodoxem Einschlag verkündeten.

 

Sein sektiererisches Sendungsbewusstsein kontrastierte stark mit seiner Kompetenz. Diese Schriften sind ein ziemlich ungenießbares Gebräu aus Aufgeschnapptem, gefühlig Raunendem und vagen Prophezeiungen – und damit typisch für einen selbstherrlich irrationalen Denkstil, der in Russland bis heute weit verbreitet ist. Malewitsch war und blieb ein Autodidakt aus der Provinz.

 

Wie das Weltall oder Jenseits

 

Was geschehen wäre, hätte er Gestaltungsmacht erhalten, mag man sich kaum ausmalen. Obwohl dazu ein Gang durch diese Ausstellung ausreicht, deren Räume streng in den suprematistischen Grundfarben gehalten sind. Ein Rundblick im strahlend weißen Saal zur Suprematismus-Hochphase lässt erkennen: Diese Bilder verströmen eine rigoros abgezirkelte Eiseskälte, die so menschenfeindlich ist wie das Weltall – oder das Jenseits.