Berlin

Die Halluzinierte Welt – Malerei am Rand der Wirklichkeit

Michael Kirkham: Pastoral, 2014; Öl auf Leinwand, 50 x70 cm. Fotoquelle: Haus am Lützowplatz
The Rocky Horror Painting Show: Das Haus am Lützowplatz zeigt Werke zeitgenössischer Maler, die Grenzen der Realität souverän ignorieren. Dieses Pandämonium lässt erahnen, welche irren Fantasien die virtuellen Welten im Internet entfesseln können.

Halluzinationen ohne Halluzinogene: Von einer Ausnahme abgesehen, kommen diese elf Künstlern ohne Rauschgift-Konsum aus. Das zeigt schon ihre virtuose, fast altmeisterliche Malkultur; derlei könnte niemand unter Drogeneinfluss meistern. Mit klarem Kopf haben sie auf rund 20 Bildern beeindruckende Visionen festgehalten.

 

Info

 

Die Halluzinierte Welt – Malerei am Rand der Wirklichkeit

 

09.04.2014 - 29.06.2014

täglich außer montags

11 bis 18 Uhr im Haus am Lützowplatz, Lützowplatz 9, Berlin

 

Weitere Informationen

 

Die mögen befremdlich, verstörend oder abstoßend erscheinen; in jedem Fall sprengen sie den Rahmen des Gewohnten. Dabei speist sich ihre Imagination aus legalen Quellen: Kunstgeschichte, tägliche Bilderflut in den Medien, visuelle Paralleluniversen von fantasy, B-movies und trash culture – oder schlicht eigene Vorstellungskraft.

 

Ungenügen am Vorhandenen

 

Für solche Grenzgänger zwischen Kunst und Realität hat Kurator Marc Wellmann ein Faible: An seiner vorigen Wirkungsstätte – dem moderner Bildhauerei gewidmeten Georg Kolbe Museum – inszenierte er 2012 eine Schau über „Konzepte des Lebens in der zeitgenössischen Skulptur“. Dort waren von selbst wuchernde Kristalle zu sehen, ein Riesen-Tintenfisch aus Keramik oder scheinbar atmende Pelz-Kugeln, die durch kleine Motoren angetrieben wurden.

Interview mit Kurator Marc Wellmann + Impressionen der Ausstellung


 

Von Schwarzer Romantik zum Surrealismus

 

Nun hat Wellmann Grenzüberschreitungen der gegenwärtigen Malerei zusammengestellt. Die Auswahl war groß, betont er: Rasch hatte er mehr als 100 Kandidaten aus aller Welt aufgetan. So unterschiedlich ihre Motive und Techniken auch sind; sie eint offenbar ein Ungenügen am Vorhandenen. Ihre Kunst soll es überschreiten, negieren – oder ganz Anderes entwerfen.

 

Das ist nicht neu. Schon das Zeitalter der Aufklärung hatte eine Nachtseite: Forschergeist und Wissenschaft beförderten zugleich wilde Spekulationen und Okkultismus. Derlei verfestigte sich nach 1800 zur „Schwarzen Romantik“: Sie bebilderte ein Panoptikum dunkler Ängste, Sehnsüchte und schwärmerischer Hoffnungen, das bis ins frühe 20. Jahrhundert wirkmächtig blieb. Aus diesem Bilderfundus bezogen Symbolismus und Surrealismus ihre Sujets.

 

Blick durch Milchglas stimuliert Empfindungen

 

Daran knüpft der Franzose Emmanuel Bornstein an. Sein „Hund“ ist ein direkter Nachfahre von Goyas „Koloss“, der wie ein riesiges Monster über einer schweflig-schwärzlichen Ebene dräut. Auch wenn diese Ikone des Schreckens neuerdings einem seiner Schüler zugeschrieben wird: Goya hielt in der berühmten Grafik-Serie Desastres de la guerra 1810/14 erstmals die Bestialität des Krieges ungeschönt fest. Bei Bornstein repräsentieren Tiere die Mörder.

 

Ruprecht von Kaufmann orientiert sich dagegen am Symbolismus. Seine „Sirenen“ haben scheinbar nichts mit Fabelwesen zu tun: Am Regenschirm schwebt eine Gestalt über dem Wasser, auf dem weitere Schirme schwimmen. Stumpfe Rosa- und Grautöne lassen alle Details verwischen – als blicke man durch Milchglas. Kaufmann verunklart absichtlich figurative Darstellungen; ein symbolistisches Verfahren, um beim Betrachter Empfindungen zu stimulieren.

 

Aufstand der Dinge im digitalen Haushalt

 

Darauf setzt auch Thilo Baumgärtel, der der „Neuen Leipziger Schule“ zugerechnet wird. In „Helia“ sitzt eine Frau mit überlangen Armen im giftgrünen Freien. Sie schickt sich zu zeichnen an, hat aber noch nichts zu Papier gebracht. Vor einer Fassade im Hintergrund lauern dunkle Schatten. Ein Szenenbild wie aus einem surrealistischen Gruselfilm: Nun könnte Arges geschehen – oder auch nichts.

 

Abgründiges versteckt Eckart Hahn lieber in fotorealistischen, auf den ersten Blick banalen Motiven: Damit wurde schon René Magritte zum Publikumsliebling. Ein Mann am Tisch löffelt aus einer Schale, die allerdings sein Antlitz trägt. Daneben hängt eine Kelle überm Elektroherd, auf dem ein Kessel steht; der sinkt in den Herd ein, und die Kelle schöpft direkt aus der Platte. Diesen Küchenutensilien ist nicht zu trauen: Ein Aufstand der Dinge, der ahnen lässt, was uns bevorsteht, wenn alle Haushaltsgeräte digital vernetzt sind.

 

Gnädig verhülltes Schreckenskabinett

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Der Stachel des Skorpions" - sechs surreale Film-Installationen als "Cadavre exquis nach Luis Buñuels »L’Âge d’or«" in München + Darmstadt

 

und hier eine Besprechung der schaurig-schönen Ausstellung “Schwarze Romantik: Von Goya bis Max Ernst” - mit Werken des Surrealismus im Städel, Frankfurt/Main

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Dekadenz – Positionen des österreichischen Symbolismus" im Belvedere, Wien

 

und hier einen Beitrag zur Ausstellung “Von mehr als einer Welt” über die Nachtseite der “Künste der Aufklärung” im Kulturforum, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Bios - Konzepte des Lebens in der zeitgenössischen Skulptur" im Georg Kolbe Museum, Berlin.

 

Das Internet erweist sich als sprudelnde Inspirationsquelle dieser Malerei: Vor der Explosion virtueller Welten verblasst jeder individuelle Sinnesrausch. Das Netz ist mächtiger als die Summe seiner Programmierer: Maschinen generieren längst mehr Informationen, als Menschen je aufnehmen können. Bald macht die Interaktion von Automaten humanes Mittun überflüssig.

 

Auf der WWW-Benutzeroberfläche blühen die Extreme: Mit Horror und Pornographie wird am meisten Geld verdient. Darauf reagieren zwei Künstler, deren Werke ein gnädig verhülltes Schreckenskabinett dem unvorbereiteten Blick entzieht. Im „Anatomietheater der Grausamkeiten“ lässt sich Alex Tennigkeit bei lebendigem Leib sezieren. „Der Schnitt“ spaltet einen Männerkopf entzwei – präzise medizinische Studien in splatter-Ästhetik.

 

Beinahe meditative Perversionen

 

„The Functionaries“ vom Briten Michael Kirkham ist wandfüllend hardcore. Zwischen Bürostuhl und -tisch samt Computer tummeln sich sechs Gestalten, die auf engstem Raum Perversionen praktizieren – von Strangulation bis Urophilie. Mit geschlossenen Augen: Alle Akteure haben weder Blick- noch Hautkontakt, sie sind allein mit sich beschäftigt.

 

Die Szene wirkte beinahe meditativ, wäre sie nicht XXX in kalten Braunblaugrau-Schattierungen. Doch Kirkham ist kein Erotomane: Seine kleinformatige Wiesen-Ansicht nebenan zeigt ein falschfarbenes Liebespaar mit gespenstisch flirrender Aura – wie eine wahre Halluzination.

 

Zu wenig, kurz + schnell vorbei

 

Diese Idylle ist eine verführerische Ausnahme. Alle anderen Leinwände sehen eher wie Ausgeburten von Alpträumen aus. Was ihren Reiz ausmacht: Ihre vieldeutigen, handwerklich perfekt umgesetzten Szenarien kitzeln Angstlüste hervor, die jeder Genrefilm bedient. Nur die schmale Auswahl ist unbefriedigend; gern würde man Arbeiten der übrigen 90 Künstler auf Wellmanns long list sehen. Zu wenig, zu kurz, zu schnell vorbei: wie bei jedem Rausch.