München

Farbenmensch Kirchner

Ernst Ludwig Kirchner: Masken auf der Straße, 1910, Öl auf Leinwand, 112 × 114,5 cm, © Bayerische Staatsgemäldesammlungen. Fotoquelle: Pinakothek der Moderne, München
Neues vom Bilderbuch-Expressionisten: Gemälde-Durchleuchtung enthüllt, dass Kirchner sehr methodisch vorging. Um schneller malen zu können, mischte er Farben mit Benzin – diese explosive Mischung zeigt die Pinakothek der Moderne in 90 Beispielen.

Aufwändige Untersuchungen von Gemälden mit Infrarot- und Röntgenstrahlen waren bisher eher Alten Meistern vorbehalten. Doch für die Ausstellung „Farbenmensch Kirchner“ ist nun einer der bedeutendsten deutschen Expressionisten und „Brücke“-Mitbegründer durchleuchtet und kunsttechnologisch aufgearbeitet worden.

 

Info

 

Farbenmensch Kirchner

 

22.05.2014 - 14.09.2014

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr, donnerstags

bis 20 Uhr

in der Pinakothek der Moderne, Barer Straße 40, München

 

Katalog 24,90 €

 

Weitere Informationen

 

Anhand von 90 Gemälden in der Pinakothek der Moderne, davon 19 aus dem Besitz der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, hinterfragen die Kuratoren den Mythos des impulsiven Malers: Sie führen vor, dass in der scheinbar direkten, skizzenhaft wirkenden Kunst von Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) viel Methode steckt.

 

Mehr Unglück als Kunststück 

 

Die Schau zeigt Hauptwerke aus seiner Berliner Zeit – etwa den genial dynamischen „Cirkus“ (1913) oder die in schrillen Farben gehaltene „Tanzschule“ (1914/25). In dieser Werkphase fand Kirchner zu seiner unverwechselbaren, mit nervösem Pinselstrich zugespitzten Figurenzeichnung. Im „Cirkus“ erzeugt die kopfüber vom Pferd hängende Akrobatin Spannung, weil die Farbpalette von Rosa, Rot, Schwarz und fahlem Grün mehr nach Unglück als nach Kunststück aussieht.

Impressionen von Hauptwerken Kirchners; © Consuelo Mariño


 

Einsamer Tanzschüler zwischen Nackten

 

Und bei der „Tanzschule“ weiß man nicht, wer mehr ausgesetzt ist: Der einsam und unbeholfen wirkende, bekleidete Mann – oder die beiden nackten Frauen neben ihm, von denen sich eine an ihn lehnt. Es handelt sich um Kirchner selbst, seine langjährige Lebensgefährtin Erna Schilling und deren Schwester Gerda, die tatsächlich Tänzerinnen waren.

 

Den Ersten Weltkrieg hat Kirchner, wie viele seiner Künstlerkollegen, nicht verkraftet: Er ging 1914 als Freiwilliger an die Front, erlitt im Folgejahr einen Nervenzusammenbruch und wurde medikamentenabhängig. Sein Bild „Der Tanz zwischen den Frauen“ von 1915 ist mehr Totentanz als Vergnügen und scheint ein Psychogramm der eigenen Verlorenheit zu sein. 1917 zog er gesundheitsbedingt in die Schweiz, wo sich sein Zustand beruhigte und sein Stil veränderte. Nachdem seine Malerei von den Nazis als „entartet“ diffamiert worden war, erschoss er sich 1938 in Davos.

 

Pigmente direkt aus der Tube

 

Die Ausstellung lässt seine Biografie nicht außer Acht, zeigt etliche Fotografien aus Berliner Ateliers und Schweizer Almhütten, verknüpft die Protagonisten von Kunst und Leben miteinander, konzentriert sich aber auf Kirchners Maltechnik und Farbenlehre. So erfährt man, dass Kirchner seine Leinwände selbst grundierte, was zu jener Zeit eher unüblich war. Er experimentierte auch bei der Zusammensetzung der Farben und mischte sie mit Benzin und Wachs, so dass sie rasch trockneten – daher seine schnelle, eher grafische Malweise.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Wien – Berlin: Kunst zweier Metropolen von Schiele bis Grosz"  - mit Werken von Ernst Ludwig Kirchner in Berlin und Wien

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "1914 – Die Avantgarden im Kampf" mit Werken von Ernst Ludwig Kirchner in der Bundeskunsthalle, Bonn

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung  “Von Beckmann bis Warhol“ zur "Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts – Die Sammlung Bayer" mit einem Grafik-Zyklus von Kirchner im Martin-Gropius-Bau, Berlin.

Kirchners Auseinandersetzung mit der Farbenlehre kann man in allen Werkphasen beobachten: Mitunter malte er allein in den Grundfarben plus Grün, wie in der Dresdner Straßenszene von 1909 oder dem „Farbentanz“ von 1933. In der Schweizer Zeit kommt später seine Verwendung von Pigmenten direkt aus der Tube zur Wirkung: Das kleinteilige „Sertigtal im Herbst“ (1926/26) erscheint in seinen Farbtönen stark differenziert und stimmungsvoll, aber so gar nicht natürlich.

 

Erstmals Rückseiten frei gehängt

 

Ein Hauptaugenmerk der Kuratoren gilt den Rückseiten der Gemälde: Um Material zu sparen, verwendete Kirchner häufig Leinwände doppelt – insgesamt 140 von mehr als 1000. Wenn er ein Motiv für obsolet erachtete, drehte er oft das Bild um 90 bis 180 Grad und bemalte auch die Rückseite. Davon kann sich der Betrachter erstmals selbst ein Bild machen: Alle beidseitig bemalten Leinwände sind auf Zwischenwänden frei gehängt, so dass man sie von beiden Seiten studieren kann.

 

Was manche Überraschung birgt: So galt Kirchners Bildnis seiner Freundin „Dodo“ (1910) lange als die Hauptseite des Gemäldes, obwohl er es umnutzte. Nun sind auf der Rückseite die stark stilisierten „Masken auf der Straße“ von 1910 zu sehen, die ganz frisch und untypisch für Kirchner wirken – während das deutlich im „Brücke“-Stil gehaltene „Dodo“-Porträt einen heute nicht mehr umhaut.