Richard Linklater

Zu einem 120-Kilo-Wrestler werden

Richard Linklater. Foto: Universal Pictures
Dreharbeiten als Zeitreise ins Unbekannte: Richard Linklater hat zwölf Jahre lang Kindheit und Jugend eines Jungen mit der Kamera begleitet. In der Pubertät drohte sein Hauptdarsteller abzuspringen, erzählt er im Interview: Alles hätte scheitern können.

Mr. Linklater, wie kommt man auf die Idee, zwölf Jahre lang das Aufwachsen eines Jungen filmisch einzufangen?

 

Die ehrliche Antwort ist, dass ich mich hinsetzte, um eine Geschichte über Kindheit zu schreiben – aber ich wusste nicht, welchen Teil der Kindheit ich beleuchten wollte. Beim Film ist man normalerweise thematisch eingeschränkt, weshalb man nur Augenblicke aus einer Kindheit auswählt. Mir erschien es aber problematisch, nur einen Teil zu beleuchten.

 

Info

 

Boyhood

 

Regie: Richard Linklater,

164 Min., USA 2013;

mit: Ellar Coltrane, Patricia Arquette, Ethan Hawke

 

Weitere Informationen

 

Also versuchte ich, andere Lösungen zu finden. Schließlich kam mir der Einfall, jedes Jahr ein wenig zu filmen, um den natürlichen Prozess einer Kindheit in seiner Gesamtheit einzufangen. Eigentlich ist das eine undurchführbare Idee, weshalb sie bisher auch kein anderer Filmmacher ausprobiert hat. Wahrscheinlich wird es auch keine Nachahmer geben, weil die Anforderungen sehr hoch sind.

 

Lars von Trier gab auf

 

Lars von Trier hatte einmal eine ähnliche Idee und traf sich über Jahre immer wieder mit Udo Kier und Jean-Marc Barr, um ihren Alterungsprozess im Film festzuhalten. Aber er soll inzwischen aufgegeben haben. Ich mache ihm da keine Vorwürfe (lacht); eigentlich lässt es sich nicht realisieren. Man braucht dafür sehr viel Leidenschaft und Ausdauer. 

Offizieller Filmtrailer


 

Zwölfjähriger wollte nicht mehr mitmachen

 

Waren Ihre Schauspieler stets bereit, sich jedes Jahr aufs Neue mit Ihnen zu treffen, um weitere Szenen zu drehen?

 

Na ja, als unser junger Hauptdarsteller Ellar Coltrane mit zwölf Jahren in die Pubertät kam, wollte er für einen kurzen Moment nicht mehr mitmachen. Dagegen hätte man rechtlich nichts tun können – schon gar nicht, wenn man mit einem Sechsjährigen anfängt, der wirklich noch nicht wissen kann, wie er als Teenager sein wird. Das ganze Projekt war letztlich Glaubenssache: Hoffentlich entsteht etwas, das es wert ist, jedes Jahr wieder zusammen zu kommen und dabei auch Spaß zu haben.

 

Wie haben Sie überhaupt einen Jungen gefunden, den Sie für geeignet hielten?

 

Natürlich traf ich mich zu Beginn mit etlichen Jungs, die damals im gleichen Alter wie Ellar waren. Als ich mich für ihn entschied, habe ich auf meine Intuition gehört. Außerdem sprach für Ellar, dass seine Eltern beide Künstler sind. Ich dachte einfach, irgendetwas davon wird auch in ihm stecken – ohne zu wissen, ob er sich nicht im Lauf der Zeit zu einem 120 Kilo schweren Wrestler entwickeln würde. Dann wäre der Film eben in diese Richtung gegangen.

 

Etwas Manipulation musste sein

 

Welche anderen Hürden und Überraschungen mussten Sie in den zwölf Jahren Dreharbeiten meistern?

 

Überraschungen gab es eine Menge. In den ersten Jahren mussten wir einen so jungen Schauspieler wie den sechsjährigen Ellar an die Situation gewöhnen, um ihm klar zu machen, wer wir sind, wer er ist und was wir wollen. Dabei habe ich ein bisschen manipuliert, aber mit der Zeit wurde daraus echte Zusammenarbeit, wie mit Ethan Hawke und Patricia Arquette, den Profi-Schauspielern in den Rollen seiner Eltern.

 

War es schwierig, Geld für ein auf so viele Jahre angelegtes Filmprojekt aufzutreiben?

 

Ja, beinahe wäre es an dieser Frage gescheitert; doch wir fanden eine Filmfirma, die an uns glaubte. IFC ist eine kleine Produktionsgesellschaft, die von New York aus arbeitet und uns jedes Jahr eine kleine Summe zur Verfügung stellte, damit wir weiter machen konnten.

 

Beide Väter in der gleichen Branche

 

Warum beschäftigen Sie sich in Ihren Filmen oft mit lebensechten Menschen?

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Boyhood" von Richard Linklater

 

und hier einen Bericht über den Film “Before Midnight” von Richard Linklater über eine unendliche Liebesgeschichte mit Ethan Hawke + Julie Delpy

 

und hier einen Bericht über den Film "For Ellen"  - Drama über ein US-Scheidungskind von So Yong Kim

 

und hier einen Beitrag zum Film Winterdieb von Ursula Meier über einen elternlosen Jungen in der Schweiz, Gewinner des Silbernen Bären 2012.

 

Ich sehe mich als Erzähler, der seine Geschichten durch Menschen weitergeben will. Meine Filme behandeln sehr persönliche Geschichten von mir, auch wenn sie nicht autobiografisch sind. „Boyhood“ zählt auch zu dieser Kategorie – obwohl ich im Gespräch mit Ethan Hawke feststellte, dass unsere Väter aus der gleichen Branche kommen.

 

Beide arbeiteten für eine Versicherungsgesellschaft. Wir haben uns über unsere Väter unterhalten und darüber, wie wir als Väter sind. Das war ein gemeinsamer und im Kern sehr persönlicher Entstehungsprozess.

 

Kaum Fett zum Wegschneiden

 

Sind viele Szenen der Schere zum Opfer gefallen?

 

Ehrlich gesagt, mussten wir nur wenig wegschneiden, denn so viel Filmmaterial stand gar nicht zur Verfügung. Gewöhnlich haben wir in jedem Jahr etwa drei Drehtage gehabt. Man darf nicht vergessen, dass wir sehr ökonomisch arbeiten mussten, weil wir nur ein kleines Budget für dieses Independent-Epos hatten (lacht).

 

Sollten Sie nicht als nächstes einen Film drehen, wie ein Mädchen zur Frau heranwächst?

 

Man kann daran anknüpfen, alles ist möglich. „Boyhood“ war eine starke Idee, weil ich etwas über die Kindheit eines Jungen erzählen wollte. Weitere Konzepte habe ich dazu aber nicht im Kopf. Vielleicht werden andere davon inspiriert, in dieser Art weiter zu machen.

 

Wie wird also Ihr nächster Film aussehen?

 

Das weiß ich noch nicht, aber ich habe etliche Projekte in der Entwicklung, bei denen ich versuche, sie realisieren zu können. Auf jeden Fall ist Schluss mit der „Before“-Trilogie; es fühlt sich gut an, drei Teile davon geschafft zu haben. Doch man kann nie wissen, was die Zukunft bringen wird.