Berlin

The Ukrainians

Oleksandr Melnyk: I see your deeds, Acryl auf Leinwand, 2014. Foto: daadgalerie
Die Kunst des Protestes: An den Umwälzungen in der Ukraine sind viele Künstler aktiv beteiligt. Erstmals in Deutschland zeigt die daadgalerie einen aktuellen Querschnitt: Nüchterne bis resignative Arbeiten lassen Aufbruchstimmung meist vermissen.

Als sich die Bolschewiki 1917 im Zarenreich an die Macht putschten, legte die russische Avantgarde richtig los. Ihre revolutionäre Ästhetik hatte sie schon vorher entwickelt, jetzt bekam sie Spielräume zum Ausprobieren. Ein Jahrzehnt lang explodierte ihre Kreativität; dann stellten die Roten ihre kulturellen Hilfstruppen kalt. Ab Ende der 1920er Jahre herrschte in der Sowjetunion wieder konventioneller Realismus – nun als „Sozialistischer“ deklariert.

 

Info

 

The Ukrainians

 

24.05.2014 - 21.06.2014

täglich außer sonntags 11 bis 18 Uhr in der daadgalerie, Zimmerstraße 90/91, Berlin

 

Weitere Informationen

 

So experimentierwütig wie ihre Vorfahren vor knapp 100 Jahren sind heutige Künstler in Ukraine nicht. Doch sie beteiligen sich ähnlich leidenschaftlich an den politischen Umwälzungen in ihrer Heimat. Das zeigt eine Gruppenausstellung in der daadgalerie, dem kulturellen show room des Deutschen Akademischen Austausch-Dienstes (DAAD).

 

Kunst seit Zerfall der Sowjetunion

 

Die Schau steht im deutschsprachigen Raum zurzeit einzigartig da. Das bis Ende Mai laufende Pendant „I am a drop in the ocean“ im Künstlerhaus Wien war auf visuelle Ausdrucksformen der Proteste beschränkt. Die daadgalerie schürft tiefer: Mit elf Beiträgen zeichnet sie Traditionslinien ukrainischer Kunst seit dem Zerfall der Sowjetunion nach.

Interview mit Kuratorin Bettina Klein + Impressionen der Ausstellung


 

„Mädels, vereinigen wir uns!“ in der Ecke

 

Das älteste Exponat stammt von 1994: die „ukrainische Staatsecke“ der Fast Reaction Group (FRG) aus Charkiw. Gemäß ostslawischer Tradition wird im wichtigsten Raum seit jeher eine Ecke für Devotionalien reserviert: früher für christlich-orthodoxe Ikonen, in der Sowjetunion für kommunistische Helden-Bildnisse und Partei-Parolen. Nach deren Zerfall verwaisten die „roten Ecken“ in öffentlichen Gebäuden.

 

Das FRG-Trio um den mittlerweile weltbekannten Fotografen Boris Mikhailov ersetzte sie durch patriotische Objekte: eine „Kiste mit drei Buchstaben“, die im ukrainischen Alphabet anders als im russischen aussehen, und ein Banner mit dem rührenden Volkslied-Refrain: „Jungs, schließen wir uns zusammen! Mädels, vereinigen wir uns!“. Dem Charme dieses Appells erlagen viele postsowjetischen Bürokraten: Sie stellten etliche solcher Altäre auf, um zu demonstrieren, dass sie mit der Zeit gingen.

 

Betroffenheitskunst ohne Aufbruchstimmung

 

Diese Aktion hat auch nach 20 Jahren Witz und Frische nicht verloren. Im Gegensatz zu vielem, was seither entstanden ist: Die übrigen Werke buchstabieren politische Probleme der jüngsten Vergangenheit mehr oder weniger originell durch, aber ohne Elan oder Enthusiasmus. Solche nüchterne bis resignative Betroffenheitskunst lässt jede Aufbruchstimmung vermissen.

 

Während der Besetzung des Maidan-Platzes in Kiew zeichnete Lesia Khomenko Demonstranten, schenkte ihnen die Originale und behielt Kopien. Sie liegen stapelweise als Porträtgalerie des Protests aus; ebenso wie Fotos von sechs Verletzten, die Lada Nakonechna als „Verhandlungstisch“ im Kreis aufreiht.

 

Voodoo-Zauber + Porzellanteller-Folter

 

Konterfeis der dafür verantwortlichen „Parlamentsratten“ nähte Yuri Leiderman schon 2007 auf eine Nationalfahne; in der Mitte prangt Ex-Staatschef Viktor Janukowitsch. Damit wollte der Künstler „diejenigen handlungsunfähig machen, die den Weg der Ukraine nach Europa behinderten“. Sein Voodoo-Zauber hat erst mit siebenjähriger Verspätung funktioniert.

 

Vlada Ralko aquarelliert eine Skandalchronik der laufenden Ereignisse; mit verwaschenen Motiven, die Presse-Karikaturen ähneln. Gestochen scharf sind dagegen die Illustrationen auf bedruckten Porzellantellern von Nikita Kadan: Im Stil populärer Medizin-Ratgeber führen sie Foltermethoden vor – auf den ersten Blick neutral: Wer hier wen misshandelt, bleibt offen.

 

Quallen wie Bomben auf Badende

 

Eindeutig parteiisch erscheint jedoch der Blickfang der Ausstellung. Die Künstlergruppe R.E.P. stellt den Verlauf der monatelangen Unruhen im Kiewer Stadtzentrum mit Hunderten schwarzer Piktogramme dar; zum Entschlüsseln gibt es ein „Wörterbuch“. Diese taufrische Wand-Collage wirkt in ihrer Symmetrie paradoxerweise so statisch wie altägyptische Hieroglyphen-Friese – oder sowjetische Monumental-Propaganda im öffentlichen Raum.

 

Es geht auch kleinformatiger. Mykola Ridnyi beeindruckt mit dem einminütigen Videoclip „Seacoast“ von 2008: Zu sehen sind harmlose Badegäste am Strand. Plötzlich fallen Quallen direkt vor die Kamera; dazu krachen auf der Tonspur Detonationen, als würden Bomben explodieren: eine einprägsame visuelle Metapher für militärische Bedrohung.

 

Einmischung mit konstruktiver Kritik

 

Ridnyi steuert auch den aktuellen Dokumentarfilm „Fortress“ bei: Er unterlegt Aufnahmen vom besetzten Maidan mit sozialhistorischen Texten von Autoren wie Karl Marx bis Georges Duby über Feudalordnung und Kriegführung im Mittelalter. Lakonisch veranschaulicht die audiovisuelle Collage, wie tief Aktivitäten beider Seiten in archaischen Mustern verwurzelt sind.

 

Das ist politisch engagierte Kunst im besten Sinne. Sie legt weder Bekenntnisse ab noch bebildert sie Heiligen-Legenden, sondern ergreift Partei für die polis, die Gemeinschaft aller Bürger. Um sie mit künstlerischen Methoden über Beschaffenheit und Hintergründe ihres Verhaltens aufzuklären – Einmischung in die Tagespolitik mit konstruktiver Kritik.

 

Von Avantgarde blieb nur Ästhetik

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde" in der Bundeskunsthalle, Bonn

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Schwestern der Revolution" über die Künstlerinnen der russischen Avantgarde im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen

 

und hier einen Bericht über den Vortrag von Kunsthistorikerin Jekaterina Degot zur revolutionären Staatskunst in der Sowjetunion auf der dOCUMENTA (13).

 

Was solche Arbeiten von ihren avantgardistischen Vorläufern 100 Jahre zuvor radikal unterscheidet. Die stellten nach der Oktoberrevolution alles infrage, nur nicht das politische Primat der Bolschewiki. Konstruktivisten wie El Lissitzky und Gustav Klucis ließen sich vor den Karren des Stalinismus spannen, doch ihre Neuschöpfungen beeinflussten Architektur und Design weltweit. Die Formensprache setzte sich durch, nicht die Inhalte: Ausgerechnet von dieser hoch politisierten Kunst überdauerte bloß ansprechende Ästhetik.

 

Ob und was von den politisch bewegten Werken in der daadgalerie bleiben wird, steht dahin. Um Rückschlüsse auf ukrainische Gegenwarts-Kunst zu erlauben, dürfte die Auswahl zu klein und subjektiv sein. Vermutlich ist dafür auch die aktuelle Lage zu verworren: ein Oligarchen-Strohmann abgesetzt, ein anderer Oligarch zum Präsidenten gewählt, ein Landesteil von Russland besetzt, ein anderer von Separatisten kontrolliert.

 

TV-news gucken + Buch lesen

 

Keiner weiß, welche Richtung die Ukraine einschlagen wird; doch in Krisenzeiten blühen die Künste. Derzeit können ukrainische Künstler Sternstunden erleben, wenn sie nicht nur schwärmen oder verteufeln, sondern genauer hinsehen als die meisten Ausstellungs-Teilnehmer – um weiter und kreativer zu denken als Diplomaten und Leitartikler. Manchmal genügt, während der Fernsehnachrichten ein gutes Buch laut vorzulesen.