Der Franzose Jean-Pierre Jeunet dreht wie sein Landsmann Michel Gondry oder der US-Amerikaner Wes Anderson verspielt fantastische Filme mit ureigener, sofort erkennbarer Handschrift. Bereits seine ersten beiden, noch gemeinsam mit Marc Caro gedrehten Filme „Delicatessen“ (1991) und „Die Stadt der verlorenen Kinder“ (1995) erregten mit groteskem Ideenreichtum großes Aufsehen.
Info
Die Karte meiner Träume
Regie: Jean-Pierre Jeunet,
105 Min., Frankreich/ Kanada 2013;
mit: Kyle Catlett, Helena Bonham Carter, Judy Davis
Mama ist Forscherin, Papa ein Cowboy
T.S. Spivet (Kyle Catlett) wohnt mit seiner Familie auf einer abgelegen Ranch in Montana. Der Zehnjährige ist hochbegabt und sehr erfinderisch − ganz Sohn seiner Mutter (Helena Bonham Carter), einer angesehenen Insektenforscherin. Sein Vater (Callum Keith Rennie), ein pragmatisch wortkarger Cowboy, interessiert sich mehr für seinen bodenständigen Zwillingsbruder Layton.
Offizieller Filmtrailer
Als blinder Passagier zur Preisverleihung
T.S. hat ein – fast perfektes – perpetuum mobile erfunden; die Pläne reicht er beim berühmten Smithsonian Institute in Washington ein. Das prämiert sie mit dem renommierten Baird-Preis – ohne zu wissen, dass T.S. noch ein Kind ist. Er packt seinen Koffer, schleicht sich aus dem Haus und reist heimlich im Güterzug als blinder Passagier in die Hauptstadt. Dort empfängt man ihn mit allen Ehren, bis er ein tragisches Geheimnis lüftet.
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Buch des US-Autors Reif Larsen: Dieses moderne Märchen wimmelt von fantasievollen Einfällen. Den Roman verzieren zahlreiche Zeichnungen von T.S.; sie verwandelt Regisseur Jeunet in 3D-Collagen, die dem Geschehen räumlich vorgelagert sind. Das passt zur zeitlos wirkenden Bilderbuch-Welt: Idyllische Aufnahmen von der Ranch in Montana erinnern an Western der 1950/60er Jahre.
Regisseur boykottiert US-Boden
Dagegen waren die Erfahrungen des Regisseurs in Hollywood so unerfreulich, dass er keinen Fuß in die USA setzte: In der französisch-kanadischen Produktion wird Montana komplett von Quebec gedoubelt. Außenaufnahmen in US-Städten entstanden ohne Jeunets Anwesenheit: Mit der dortigen Filmindustrie will er keine Kompromisse mehr eingehen.
In „Die Karte meiner Träume“ verbindet Jeunet typisch amerikanischen Genie-Kult mit seiner Liebe zum Abseitigen und Absonderlichen. Wie alle seine Filme strotzt auch dieser vor optischen gimmicks: Geht es um einen sich zufällig lösenden Schuss, sieht man Zeichnungen von T.S. zur ballistischen Analyse der Flugbahn. Unterhält er sich mit seiner Schwester Gracie, spielt sich in ihrem Hirn eine chaotische Debatte wild miteinander diskutierender Mädchen ab.
Charme-Verlust nach Atlantik-Überquerung
Doch unter der bonbonbunten Oberfläche tun sich tief sitzende Konflikte und tragische Ereignisse auf. T.S. fühlt sich daheim sehr einsam: Sein Vater hat kein Verständnis für den Wunderknaben, und seine Mutter ist derart mit ihrer Wissenschaft beschäftigt, dass sie sich kaum um ihn kümmert. Und sein Bruder Layton, mit dem er sich gut verstand, ist nach einem Unfall nicht mehr da.
Hintergrund
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Ein culture clash eigener Art
Dessen Darsteller Kyle Catlett ist zwar selbst hochbegabt, aber kein begnadeter Jungschauspieler: Oft blickt er drein, als fühle er sich im falschen Film. Zumal ihn das Drehbuch von einer wenig motivierten Episode in die andere stolpern lässt, die nichts miteinander verbindet − als wären sie nur erdacht, um diese oder jene possierliche Jeunet-Idee unterzubringen.
Auch das rührselige Ende erinnert eher an Hollywood-Konfektionsware als an die anarchisch mäandernden Frühwerke des Regisseurs. Das macht „Die Karte meiner Träume“ zu einem culture clash eigener Art: Französische Cineasten-Sensibilität kollidiert mit blockbuster-Erfolgsformeln made in USA.