Matt Berninger ist als Sänger von „The National“ ein Rockstar; diese Indie-Band hat sich im Lauf eines Jahrzehnts unermüdlich an die Spitze gerackert. Tom Berninger ist sein kleiner Bruder und kein Star. Sicher, der Jüngere hat Talent – aber leider nicht den Biss, etwas zu Ende zu führen, wie seine Mutter im Film wissen lässt.
Info
Mistaken for Strangers
Regie: Tom Berninger,
75 Min., USA 2013;
mit: Matt Berninger, Tom Berninger, Aaron Dessner
Mit Bruder on the road abhängen
Das weiß man noch nicht, als Matt zu Beginn des Films seinem slacker-Bruder anbietet, ihn auf der nächsten US-Tour zu begleiten: als Assistent des road managers. Tom steht zwar eigentlich mehr auf Heavy Metal als auf den Konsens-Rock von „The National“. Doch er versteht die Einladung als nettes Angebot, mit dem Bruder abzuhängen und von den vermeintlichen Vorzügen des Tourlebens zu naschen.
Offizieller Filmtrailer OmU
Tom nimmt jedes Fettnäpfchen mit
Außerdem ist er schließlich Filmemacher: Warum nicht noch nebenbei einen Dokumentarfilm über die Band drehen? Es kommt, wie es kommen muss: Der road manager ist bald von seinem zerstreuten Assistenten schwer genervt, und Tom nimmt jedes Fettnäpfchen mit. Matt ist anzusehen, dass er vor Scham am liebsten im Boden versinken würde. Als gewissenhafter Dokumentarfilmer hat Tom alles aufgezeichnet – man weiß manchmal nicht, wie.
Dabei bleibt er ein Fremdkörper in der Entourage der Rockband; ein Maskottchen, das nur des großen Bruders zuliebe geduldet wird. Bis auch das nichts mehr hilft: Nachdem Tom die Gästeliste verschusselt und sich einmal zu oft an den Getränken für die Künstler vergriffen hat, wird er gefeuert.
Reise in dunkle Ecken der Persönlichkeit
Er kehrt zurück ins Haus seiner Eltern und verfällt in eine Depression. Ab jetzt verlässt der Film seinen ironisch narzisstischen Pfad. Aus dem amateurhaft angelegten Band-Porträt wird die Selbsttherapie eines verhinderten Filmemachers. Aus Mitleid, schlechtem Gewissen und offensichtlicher Bruderliebe lädt Matt seinen Bruder nach Brooklyn ein, um den vermeintlich gescheiterten Film dort zu beenden.
Mithilfe seiner Schwägerin beginnt Tom, das Material zu bearbeiten. Das wird zur Reise in dunkle Ecken seiner Persönlichkeit und seines Verhältnisses zum älteren Bruder, in dem sich Bewunderung und Minderwertigkeits-Gefühle die Waage halten. Umgekehrt beginnt auch Matt, sich aus seiner distanziert herablassenden Position zu lösen: Als er merkt, dass sein Bruder ihn in einer existentiellen Krise wirklich braucht, springt er ein.
Beim späten Erwachsenwerden zusehen
Immerhin hatte er Tom einst an Horrorfilme herangeführt, was diesen später zur Kamera greifen ließ. So sieht man einem Filmemacher beim späten Erwachsenwerden zu; die Bilder, mit denen anfangs die Brüder eingeführt worden sind, bekommen eine neue Bedeutungsebene. Nachdem man sich den halben Film lang gefragt hat, was dieser Scherz eigentlich soll, wird es plötzlich spannend – und rührend.
„Mistaken for Strangers“ ist also alles andere als ein Dokumentarfilm über eine Rockband. Allenfalls ein Genie wie Martin Scorsese könnte einen interessanten Film über „The National“ drehen; ihr rock’n’roll ist so kreuzbrav und langweilig, dass sie sogar für den US-Präsidenten spielen dürfen. Am ehesten interessant an dieser Gruppe ist, dass sie – abgesehen von Matt und Tom – aus zwei weiteren Brüderpaaren besteht.
Ein Hauch von Freud und Fellini
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Journey to Jah" - Doku über weiße Reggae-Stars auf Jamaika von Noël Dernesch + Moritz Springer
und hier einen Bericht über die Doku “Blank City” - über die No-Wave-Szene im New York der späten 1970er Jahre von Céline Danhier
und hier einen Beitrag über den Film "Not Fade Away" - Drama einer US-Provinz-Rockband in den 1960/70er Jahren von David Chase mit James Gandolfini.
Ein Hauch von Freud und Fellini durchweht diesen so unkünstlerischen Meta-Musik-Film. Er erinnert damit auch an die legendäre Pseudo-Doku „This is Spinal Tap“ von 1984, in der Regisseur Rob Reiner den angeblichen Tournee-Alltag der fiktiven Heavy-Metal-Band „Spinal Tap“ begleitete.
Weihnachtslieder von Rob Halford
30 Jahre später existieren zwar Rockgruppe und Tour tatsächlich, aber das Ergebnis fällt mindestens ebenso schräg aus. Nicht zuletzt, weil hier kein professioneller Filmemacher versucht, ein Projekt zu verwirklichen, sondern sich ein sympathisch schluffiger underdog im Selbstversuch als work in progress Schritt für Schritt seine Wahrheiten erobern muss.
Wenn Tom auf diesem langen, schmerzhaften Weg seinen Trost in den Weihnachtsliedern von Rob Halford findet, dem Sänger der Hardrock-Band „Judas Priest“, oder in anonymen Garderobengängen vergeblich dem Geist des rock’n’roll nachjagt – dann hat er die Sympathien der Zuschauer sicher auf seiner Seite.