Darmstadt

Dem Licht entgegen – Die Künstlerkolonie-Ausstellung 1914

Blick nach Osten auf das Steinrelief Auferstehung von Bernhard Hoetger. Fotoquelle: Institut Mathildenhöhe Darmstadt
Todeskuss für den Traum vom Gesamtkunstwerk: Die Künstlerkolonie-Ausstellung 1914 fiel dem Ersten Weltkrieg zum Opfer. Mit ihr starb der Jugendstil als Versuch, das Leben künstlerisch zu gestalten; das zeigt die Gedenkschau der Mathildenhöhe.

Eklektische Multikulti-Religiösität

 

Hoetgers Grabmal, das er der 1907 gestorbenen Malerin Paula Modersohn-Becker widmete, kehrt das Pièta-Schema um: Die hinscheidende Mutter liegt ausgestreckt. Auf ihrem Bauch sitzt ein Kind in Buddha-Pose; im Sockel ist ein Zitat aus der indischen Bhagavadgita eingraviert. Allerorten finden sich Anspielungen auf fernöstliche und antike Weisheiten: Hoetger frönte einer eklektischen Multikulti-Religiösität, die vor 100 Jahren unter Intellektuellen weit verbreitet war.

 

Ganz diesseitig war hingegen seine Serie von 15 Majolika-Plastiken zu Tugenden und Lastern, die in der Künstlerkolonie-Schau aufgestellt wurde; vier große Steinguss-Varianten – etwa der „Geiz“ – stehen noch vor dem Ausstellungs-Gebäude. Ebenso erhalten sind die Schmuck-Elemente von 1914, die Olbrichs Hochzeitsturm vollendeten.

 

Küssende Engel als Emanzipations-Boten

 

Sein Eingangshalle dekorierte Friedrich Wilhelm Kleukens im Inneren mit zwei monumentalen Jugendstil-Mosaiken: Auf der einen Seite breitet Fortuna zwei Füllhörner aus, aus denen Tauben Rosen in die Welt tragen. Gegenüber umschlingen sich zwei geflügelte Wesen zum Kuss: Mann und Frau sind gleich groß und schweben auf derselben Höhe.

 

Kleukens gestaltete auch das Sonnenuhr-Mosaik auf der Südseite des Turms. Unter Tierkreiszeichen prangt ein Gedicht von Rudolf Binding, das mit den Zeilen beginnt: „Der Tag geht/ über mein Gesicht/ Die Nacht, sie/ tastet leis‘ vorbei/ und Tag und Nacht/ ein Gleichgewicht/ und Nacht und Tag/ ein Einerlei“.

 

Fünf Meter langer Esstisch

 

Dieser wunderbar weihevolle Ton selbst im Trivialen trifft wohl genau die Atmosphäre, die einst auf der Mathildenhöhe herrschte: rastloses Bestreben, noch das Geringste zu verbessern und dem Dasein ein edleres Gepräge zu geben. Wie weit das reichte, zeigt die eigentliche Gedenk-Ausstellung im „Museum Künstlerkolonie“, das im Ernst-Ludwig-Haus untergebracht ist – dem ersten, 1901 errichteten Gebäude des Ensembles.

 

Hier finden sich zahlreiche Muster-Möbel und -Einrichtungsgegenstände: vom Esstisch, der sich auf bis zu fünf Meter ausziehen lässt, über Kaminuhren, Vasen und Übertöpfe bis zu Essgeschirr. Ähnlich wie beim belgischen Jugendstil-Designer Henry van de Velde entging nichts dem Verschönerungs-Willen der Künstlerkolonie-Mitglieder.

 

Bunte Keks-Dosen im Schwarzweiß-Café

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier einen Bericht über die Ausstellung "1912 – Mission Moderne" - Rekonstruktion der Jahrhundertschau des Sonderbunds mit Werken von Paul Gauguin + Bernhard Hoetger im Wallraf-Richartz-Museum, Köln

 

und hier eine Renzension über die Ausstellung "Architekturträume des Jugendstils – Joseph Maria Olbrich" mit Entwürfen des in Darmstadt wirkenden Architekten in der Kunstbibliothek, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Leidenschaft, Funktion und Schönheit" über den Jugendstil-Künstler Henry van de Velde im Neuen Museum, Weimar

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung “Jugendstil bis Gegenwart“: neue Dauerausstellung zum Design im 20. Jahrhundert im GRASSI Museum, Leipzig.

 

Unter ihnen tat sich vor allem der Architekt und Grafiker Emanuel Josef Margold aus Wien mit vielseitigen Entwürfen für jeden Zweck hervor. Seine bedeutendsten Beiträge zur 1914er-Schau waren ein Musik-Pavillon, das Restaurant und eine Café-Halle. Von diesen temporären Bauten sind nur Fotos geblieben; sie lassen ahnen, wie radikal seine Lösungen waren.

 

Jedes Gebäude war in strengem Schwarzweiß gehalten. Alles folgte einheitlichem corporate design: von Lampen über Türklinken, Gläser, Speisekarten bis zum Besteck. Dabei war Margold keineswegs sinnes- oder genussfeindlich: Für die Bahlsen-Keksfabrik in Hannover gestaltete er zahllose Gebäckdosen und -behälter mit farbenfroh verspieltem Dekor.

 

Bäume wachsen durchs Caféhaus

 

Auch in Darmstadt leistete er sich kühne Einfälle. Beim Café im Platanenhain integrierte Margold die Bäume in die Halle, so dass es schien, als wüchsen die Stämme aus dem Boden und durchbrächen die Decke. Eine naturnahe Architektur, die in den 100 Jahren seither kaum mehr erreicht worden ist.

 

Wie vieles in dieser Gedenk-Ausstellung, die sich vor allem im Außenraum abspielt. So gelungen die Arbeiten in den Räumen und Vitrinen des Museums auch sind: Sie zeigen vorwiegend geläufiges Jugendstil-Design. Erst beim Rundgang über das Gelände machen Schautafeln deutlich, wie subtil alle Baukörper aufeinander abgestimmt sind und einander harmonisch ergänzen – was man der Mathildenhöhe aus der Ferne nicht ansieht.

 

Mechanisierung verhässlicht

 

Die Idylle währte nur zehn Wochen lang. Dann fegte sie der Krieg beiseite – und damit den Ehrgeiz einiger der besten Kräfte im alten Europa, der Moderne ein menschliches Antlitz zu verleihen. In dieser Weise sollte der Versuch nie wieder gewagt werden.

 

Als nach dem großen Schlachten am Bauhaus und anderswo der Faden wieder aufgenommen wurde, herrschte bereits das Primat der Mechanisierung – deren äußerste Konsequenz als Digitalisierung heute dominiert. Wie sie die Welt verhässlichen, zeigt jeder Rundblick in unseren Häusern und Städten.