
Frau Ekvtimishvili, wie stark sind die beiden Hauptfiguren in ihrem Film, Eka und Natia, an ihre eigene Biographie angelehnt?
1992 lebte ich in Georgien und war im gleichen Alter wie unsere Protagonistinnen, nämlich 14 Jahre alt. Nicht alles, was ihnen im Film zustößt, ist auch mir persönlich widerfahren, aber es geschah in meiner unmittelbaren Umgebung: Familie, Freunden, und einiges auch mir persönlich.
Info
Die langen hellen Tage -
(Grzeli nateli dgeebi -
In Bloom)
Regie: Nana Ekvtimishvili + Simon Groß
102 Min., Georgien/ Deutschland 2013;
mit: Lika Babluani, Mariam Bokeria, Zurab Gogaladze
Früher rief keiner die Polizei
Waren Brautraub und Ehrenmord damals in Georgien übliche Praxis – und wie sieht das heute aus?
In den 1990er Jahren kam Brautraub in Georgien sehr häufig vor; das geschah regelmäßig. Ich kenne viele Frauen, die entführt worden sind, dann heirateten und nun Familie und Kinder haben; einige sind geschieden. Ehrenmorde waren auch die Regel; so etwas ist täglich passiert. Im Hof, auf der Schule oder Straße: Überall gab es jemand, der sich in seiner Ehre verletzt fühlte. In dieser Zeit hatten Jugendliche Waffen und haben sie auch eingesetzt.
Heute ist das anders. Brautraub geschieht noch manchmal, aber er ist nicht mehr die Regel wie in den 1990er Jahren. Ehrenmorde können vielleicht ebenso passieren, aber nicht mehr so oft, da das Rechtssystem viel besser funktioniert. Früher wurde in solchen Fällen nicht die Polizei gerufen, weil man dadurch noch mehr Probleme bekam; heute ist die Polizei zuverlässiger.
Auszüge des Interviews
Hochkochende Konflikte in Extremsituation
Aus welchen Gründen hat sich das geändert?
Durch einen Regierungswechsel; die zehnjährige Ära Schewardnadse war 2003 zu Ende. Unter seinem Nachfolger Saakaschwili änderte sich manches: Kleinkriminalität und Korruption wurden stärker bekämpft. Man konnte wieder nachts nach draußen gehen oder sein Auto auf der Straße stehen lassen, ohne dass es gestohlen wurde.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren Rechtssystem und öffentliche Ordnung zusammengebrochen. Vieles, was im Kommunismus unterdrückt worden war, kam in dieser Extremsituation wieder hoch. Es gab weder Strom noch Wasser oder Gas; die Leute wussten nicht, was sie am nächsten Tag essen sollten. Alle Gefühle, Verletzungen und Konflikte spitzten sich zu; sie wurden stärker und extremer.
Muss über damalige Tagebücher lachen
Natürlich habe ich viel mehr Erinnerungen an diese Epoche als das, was im Film vorkommt; über meine völlig politisierten Tagebücher aus dieser Zeit, die ich als Zwölf- bis 14-Jährige schrieb, muss ich heute lachen. Aber mein Mann und Co-Regisseur Simon Groß und ich haben uns entschieden, politische Hintergründe wie den Krieg in Abchasien oder den Bürgerkrieg auszulassen. Wir wollten durch die Figuren und ihren Alltag erzählen, in welcher Zeit sie leben, so dass man die politischen Verwerfungen indirekt spürt.
Damals weniger Autos + Leute
Die Hauptstadt Tiflis ist heute eine sehr lebendige Metropole. Dagegen wirkt sie im Film verwaist und still; wieso?
Heute sieht die Stadt ganz anders aus; auch die Stadtgeräusche haben sich verändert. Damals fuhren viel weniger Autos umher. Nachts waren wenige Leute draußen, weil es gefährlich war, vor die Tür zu gehen. Versetze ich mich in diese Zeit hinein, habe ich keine Bilder von Straßen voller Menschen im Kopf.
Orte, wo persönliches Leben abläuft
Ihre Figuren bleiben in ihrem Viertel mit seinen engen Gassen. Warum gehen sie nie in die Innenstadt oder zur Hauptverkehrsachse, dem Rustaweli-Boulevard?
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die langen hellen Tage" von Nana Ekvtimishvili + Simon Groß
und hier eine Besprechung des Films “Shanghai, Shimen Road” - coming of age story über Chinas Jugend Ende der 198oer Jahre von Haolun Shu
und hier einen Beitrag über den Film "The Loneliest Planet" - Globetrotter-Drama in Georgien von Julia Loktev mit Gael García Bernal
und hier einen Bericht über den Film "Anduni - Fremde Heimat" - Porträts armenischer Emigranten in Deutschland von Samira Radsi.
Das ist mit Politik verbunden und hat für mich nichts mit Privatem zu tun. Wir haben versucht, unseren Figuren so nah wie möglich zu kommen. Alle Orte im Film sollten für sie persönlich wichtig sein, wie etwa die Schule, ihr Schulweg und ihr Zuhause – dort, wo ihr Leben abläuft.
30.000 Zuschauer in zwei Kinos
Gibt es für solche Filme in Georgien ein Publikum?
Unser Film lief in zwei der drei Kinos in Tiflis und war ein großer Erfolg: Wir hatten bis zu 30.000 Zuschauer. Das zeigt, wie interessiert Georgier daran sind, heimische Filme zu sehen: georgische Geschichten, die mit ihnen selbst zu tun haben, denn meist laufen im Kino nur amerikanische blockbuster. Sie wollen aber Filme sehen, die ihrem Leben nahe stehen.
Vier Eisdielen mit 70 Mitarbeitern
Sie und Ihr Mann Simon Groß sind nicht nur Filmemacher, sondern auch Eisdielen-Betreiber. Wie kam es dazu?
Drehbücher zu schreiben und Filme zu machen, erfordert Zeit und Geld. Als mein Mann Simon zum ersten Mal nach Georgien kam, hatte er die Idee, dort eine Eisdiele zu eröffnen; ich habe ihn ermutigt. 2008 haben wir das umgesetzt, und es läuft gut. Mittlerweile haben wir vier Läden mit mehr als 70 Mitarbeitern – den Erfolg bringen unsere geheimen Rezepturen mit natürlichen Zutaten und deutscher Fleiß.