Xavier Dolan gilt wegen seiner Jugend immer noch als Regie-Wunderkind: Mit 20 Jahren drehte er seinen Debütfilm „I killed my Mother“, der prompt bei den Festspielen in Cannes gezeigt wurde. Seither legt der inzwischen 25-jährige Frankokanadier pro Jahr einen Film vor, bei dem er Regie führt und oft auch Rollen übernimmt; damit ist er Dauergast auf allen wichtigen Festivals.
Info
Sag nicht, wer du bist!
(Tom at the Farm)
Regie: Xavier Dolan,
105 Min., Kanada 2013;
mit: Xavier Dolan, Pierre-Ives Cardinal, Lise Roy, Évelyne Brochu
Kein Verkehr, kein Lebenszeichen
Irgendwo in Kanada: Ein Auto fährt einsam über eine schnurgerade Landstraße zwischen abgeernteten Feldern. Kein Gegenverkehr; auch sonst kein Anzeichen von Leben. Am Steuer sitzt ein in Tränen aufgelöster junger Mann. Tom (Xavier Dolan), ein typischer Großstadt-hipster, ist auf dem Weg zur Beerdigung seines Geliebten Guillaume in dessen Heimatdorf.
Offizieller Filmtrailer
Als Aushilfe im Kuhstall angeheuert
Am Bauernhof der Familie angekommen, erwartet ihn niemand; alles scheint verlassen. Als Guillaumes Mutter (Lise Roy) und Bruder Francis (Pierre-Yves Cardinal) schließlich auftauchen, sind sie über Toms Eintreffen sehr überrascht. Die nichtsahnende Mutter hat eher Guillaumes Freundin erwartet, die ihm sein Bruder aus Rücksicht auf ihre Gefühle angedichtet hat.
Da der junge Mann nun einmal da ist, soll er bis zur Beerdigung bleiben und mit anpacken. Im Kuhstall gibt es schließlich immer etwas zu tun. Schnell gewöhnt sich Tom ein; er genießt das extrem einfache und monotone Landleben auch ein wenig, denn von seinem stressigen Grafikdesigner-Job in der Stadt hat er zurzeit genug.
Bruder hat in allen Lokalen Hausverbot
Francis lässt Tom gegenüber aber stets durchblicken, wie wenig er von Schwulen hält – also Leuten wie ihm. Er droht dem Neuankömmling, auf keinen Fall der Mutter etwas über seine wahre Beziehung zu ihrem Sohn zu verraten. Dabei ist Francis bei der Durchsetzung seiner Forderungen keineswegs zimperlich; dementsprechend hat er in allen Lokalen der Gegend Hausverbot.
Als der Jung-Farmer Tom eröffnet, dass er Guillaume für eine Weile auf dem Hof ersetzen soll, fügt der sich zunächst unwillig, fühlt sich aber auch gebraucht – etwas, das er in der Stadt nicht hat. Tom taucht immer weiter in das fragile Familiengefüge ein, wo man kaum redet, sondern nebeneinander her lebt; so lernt er seinen toten Geliebten noch einmal neu kennen.
Tango tanzen in der Scheune
Auch der grobschlächtige Francis zeigt eine überraschende Seite; er tanzt heimlich Tango in der umgebauten Scheune und hat diese Leidenschaft an seinen Bruder weitergegeben, der wiederum Tom an Tango heranführte. In einer wunderbar leichten Szene tanzt Francis mit Tom formvollendet über die Dielen – bis die Mutter sie stört.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
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Katalysatoren für Gewalt
Dolans vierter Spielfilm zeugt abermals von seinem großen Regietalent. Als Ausgleich nach den anstrengenden Dreharbeiten für „Laurence Anyways“ geplant, ist „Sag nicht, wer du bist!“ jedoch keine erholsame Fingerübung, sondern vielleicht sein bislang reifstes Werk: ein ländlicher film noir mit wunderbarer Musik, der willentlich an große Vorbilder wie Alfred Hitchcock anknüpft.
Atmosphärisch dicht erzählt der Regisseur in düster-nebligen Bildern von unerfüllten Träumen, Entsagung, Hass, Selbstverleugnung und verdrängter Sexualität; allesamt Katalysatoren für die Gewalt, die Tom erleidet. Gemeinsam mit der Hauptfigur wird man in das strenge und weitgehend wortlose Leben dieser Familie gezogen und bringt immer mehr Interesse für sie auf.
Entrinnen nur auf langer Straße
Dabei ist Tom keineswegs nur Opfer; er entscheidet sich bewusst für diese Grenzerfahrung mit sadomasochistischer Komponente. Als Fremder auf der Farm bringt er lange unter der Oberfläche schlummernde Gedanken und Wünsche zum Vorschein, die in der ambivalenten Figur von Francis personifiziert zum Ausdruck kommen. Alle sind verlorene Seelen ohne Hoffnung in dieser Einöde, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Bis auf die lange Straße, auf der Tom gekommen ist.