Durchs wilde Kurdistan: Seit den Tagen von Karl May hat sich im kargen nordirakischen Bergdorf, in dem Siyar (Taher Abdullah Taher) wohnt, wenig verändert. Nach dem Tod seines Vaters trifft der 16-Jährige als Familienvorstand alle Entscheidungen. Als der Stammesführer (Agha) seinen Sohn mit Siyars Schwester Nermin (Bahar Özen) verheiraten will, stimmt er zu − und als Nermin vor der Zwangsehe mit ihrem Geliebten in die Türkei flieht, schwört er Rache: Sie soll sterben, um die Familienehre wiederherzustellen.
Info
Der Junge Siyar
Regie: Hisham Zaman,
105 Min., Irak/ Norwegen/ Deutschland 2013
mit: Taher Abdullah Taher, Suzan Ilir, Bahar Özen
Ferngesteuert unter Kontrolle
Dessen Machtwort eilt ihm voraus, wo immer er hingerät: Ein Netzwerk kurdischer Emigranten mit Wurzeln in seiner Heimatregion überzieht ganz Europa. Ohne ihre Unterstützung wäre der Teenager, der nur Kurdisch spricht, völlig hilflos. Andererseits bleibt er quasi ferngesteuert unter Kontrolle: Bei jeder Ankunft wird Siyar schon erwartet − wie der Agha befiehlt.
Offizieller Filmtrailer
Eigene Odyssee des Regisseurs
Was er rasch zu spüren bekommt, als er in einem gecekondu (Slum) von Istanbul das kurdische Straßenmädchen Evin (Suzan Ilir) kennen lernt und mitnimmt: Sie will zu ihrem in Berlin lebenden Vater, einem früheren PKK-Kämpfer. Damit handeln sich beide nicht nur Ärger mit Siyars Verbindungsleuten ein, die solche Extratouren nicht dulden wollen, sondern auch mit den Menschenschmugglern. Deren Rachedurst ist ebenso unerbittlich; und im Gegensatz zur Hauptfigur kennen sie keine Gnade.
In seinem Spielfilm-Debüt verknüpft der kurdische Regisseur Hisham Zaman geschickt zwei Themen miteinander: Ehrenmorde an Angehörigen, wie sie etwa Feo Aladag in „Die Fremde“ mit Sibel Kekilli aufgriff, mit der Flucht illegaler Immigranten nach Europa, wie im Berlinale-Siegerfilm 2003 „In This World − Aufbruch ins Ungewisse“ von Michael Winterbottom. Diese Odyssee kennt Regisseur Zaman aus eigener Erfahrung: Seine Familie rettete sich vor Saddam Husseins Terror-Regime aus dem Nordirak Anfang der 1990er Jahre nach Istanbul. Dort hauste sie in Armut, bevor sie nach Norwegen weiterreisen konnte.
Archaische Welt wortkarger Machos
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "My Sweet Pepper Land" - origineller Western in Kurdistan von Hiner Saleem mit Golshifteh Farahani
und hier einen Bericht über den Film "Babamin Sesi - Die Stimme meines Vaters" - kurdisches Familiendrama von Orhan Eskiköy + Zeynal Doğan
und hier eine Kritik des Films "Meş – Lauf!" - erstes nur auf Kurdisch gedrehtes Drama über den PKK- Guerillakrieg von Shiar Abdi
und hier einen kultiversum-Beitrag über den Film "Die Fremde" - Ehrenmord- Drama von Feo Aladag mit Sibel Kekilli.
In dieser archaischen Welt wortkarger Machos sind Dialog und Reflexion nicht vorgesehen. Jeder hat seinen Platz in der strengen Hierarchie und seine zugeteilte Rolle auszufüllen; andernfalls muss er dafür bluten. Dass Handeln auch durch Mitgefühl motiviert sein kann, erfährt der Held erstmals, als er mit seiner Freundin ihren vermeintlichen Vater in Berlin aufsucht. Er gab sich in Briefen nur als solcher aus, um Evins Mutter in türkischer Haft Folterqualen zu ersparen − auf welche Weise, bleibt ungeklärt.
Ameisenperspektive wie Akteure
Wie manch andere Wendung dieser langen Irrfahrt durch viele Stationen. Stattdessen treten etliche Mittelsmänner und zwielichtige Agenten auf, die irgendwie miteinander in Verbindung stehen; dabei den Überblick zu behalten, fällt schwer. Was passt: Regisseur Zaman zwingt den Zuschauer in die gleiche Ameisenperspektive wie die Akteure, die oft kaum verstehen, wie ihnen geschieht. Womit er trotz obskurer Details eine erhellende Einsicht vermittelt: Alle Einwanderer schleppen die Kultur ihrer Herkunft wie Pech an den Schuhsohlen mit sich − ob sie mit europäischen Werten vereinbar ist oder nicht.