Hisham Zaman

Der Junge Siyar

Vorbereitung zum Abtauchen: Siyar (Taher Abdullah Taher) wird mit Folie als Öl-Schutz eingewickelt, bevor er in einen Tanklaster steigt. Foto: Dual Filmverleih
(Kinostart: 11.9.) Im Auftrag des Agha: Ein junger irakischer Kurde soll im Westen seine Schwester töten, die aus ihrem Dorf floh. Beklemmende Ehrenmord-Logik verknüpft Regisseur Zaman eindrucksvoll mit der Odyssee illegaler Einwanderer in Europa.

Durchs wilde Kurdistan: Seit den Tagen von Karl May hat sich im kargen nordirakischen Bergdorf, in dem Siyar (Taher Abdullah Taher) wohnt, wenig verändert. Nach dem Tod seines Vaters trifft der 16-Jährige als Familienvorstand alle Entscheidungen. Als der Stammesführer (Agha) seinen Sohn mit Siyars Schwester Nermin (Bahar Özen) verheiraten will, stimmt er zu − und als Nermin vor der Zwangsehe mit ihrem Geliebten in die Türkei flieht, schwört er Rache: Sie soll sterben, um die Familienehre wiederherzustellen.

 

Info

 

Der Junge Siyar

 

Regie: Hisham Zaman,

105 Min., Irak/ Norwegen/ Deutschland 2013

mit: Taher Abdullah Taher, Suzan Ilir, Bahar Özen

 

Website zum Film

 

Ohne einen Schimmer, was ihn erwartet, macht sich Siyar auf den weiten Weg nach Westen. Bald muss er in einem Tanklaster wortwörtlich untertauchen, der ihn über die irakisch-türkische Grenze bringt. In Istanbul spürt er seine Schwester auf, doch sie entkommt ihm − nach Norwegen. Nun vertraut sich Siyar einer Schlepperbande an, die ihn nach Griechenland einschleust; die Kosten übernimmt der Agha.

 

Ferngesteuert unter Kontrolle

 

Dessen Machtwort eilt ihm voraus, wo immer er hingerät: Ein Netzwerk kurdischer Emigranten mit Wurzeln in seiner Heimatregion überzieht ganz Europa. Ohne ihre Unterstützung wäre der Teenager, der nur Kurdisch spricht, völlig hilflos. Andererseits bleibt er quasi ferngesteuert unter Kontrolle: Bei jeder Ankunft wird Siyar schon erwartet − wie der Agha befiehlt.


Offizieller Filmtrailer


 

Eigene Odyssee des Regisseurs

 

Was er rasch zu spüren bekommt, als er in einem gecekondu (Slum) von Istanbul das kurdische Straßenmädchen Evin (Suzan Ilir) kennen lernt und mitnimmt: Sie will zu ihrem in Berlin lebenden Vater, einem früheren PKK-Kämpfer. Damit handeln sich beide nicht nur Ärger mit Siyars Verbindungsleuten ein, die solche Extratouren nicht dulden wollen, sondern auch mit den Menschenschmugglern. Deren Rachedurst ist ebenso unerbittlich; und im Gegensatz zur Hauptfigur kennen sie keine Gnade.

 

In seinem Spielfilm-Debüt verknüpft der kurdische Regisseur Hisham Zaman geschickt zwei Themen miteinander: Ehrenmorde an Angehörigen, wie sie etwa Feo Aladag in „Die Fremde“ mit Sibel Kekilli aufgriff, mit der Flucht illegaler Immigranten nach Europa, wie im Berlinale-Siegerfilm 2003 „In This World − Aufbruch ins Ungewisse“ von Michael Winterbottom. Diese Odyssee kennt Regisseur Zaman aus eigener Erfahrung: Seine Familie rettete sich vor Saddam Husseins Terror-Regime aus dem Nordirak Anfang der 1990er Jahre nach Istanbul. Dort hauste sie in Armut, bevor sie nach Norwegen weiterreisen konnte.

 

Archaische Welt wortkarger Machos

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "My Sweet Pepper Land" - origineller Western in Kurdistan von Hiner Saleem mit Golshifteh Farahani

 

und hier einen Bericht über den Film "Babamin Sesi - Die Stimme meines Vaters" - kurdisches Familiendrama von Orhan Eskiköy + Zeynal Doğan

 

und hier eine Kritik des Films "Meş – Lauf!" - erstes nur auf Kurdisch gedrehtes Drama über den PKK- Guerillakrieg von Shiar Abdi

 

und hier einen kultiversum-Beitrag über den Film "Die Fremde" - Ehrenmord- Drama von Feo Aladag mit Sibel Kekilli.

 

Die autobiographischen Anklänge lassen den Film besonders dann authentisch wirken, wenn er schroff und spröde erscheint. Hauptdarsteller Taher Abdullah Taher, ein Laie wie fast alle Mitwirkenden, verschanzt sich hinter grimmiger Entschlossenheit; erst nach einer Stunde entlockt ihm Evin ein scheues Lächeln. Ohnehin treten alle Männer mit pokerface und aggressivem Imponiergehabe auf; kurze Sätze spucken sie aus wie Kaugummis: bloß keine Angriffsflächen bieten!

 

In dieser archaischen Welt wortkarger Machos sind Dialog und Reflexion nicht vorgesehen. Jeder hat seinen Platz in der strengen Hierarchie und seine zugeteilte Rolle auszufüllen; andernfalls muss er dafür bluten. Dass Handeln auch durch Mitgefühl motiviert sein kann, erfährt der Held erstmals, als er mit seiner Freundin ihren vermeintlichen Vater in Berlin aufsucht. Er gab sich in Briefen nur als solcher aus, um Evins Mutter in türkischer Haft Folterqualen zu ersparen − auf welche Weise, bleibt ungeklärt.

 

Ameisenperspektive wie Akteure

 

Wie manch andere Wendung dieser langen Irrfahrt durch viele Stationen. Stattdessen treten etliche Mittelsmänner und zwielichtige Agenten auf, die irgendwie miteinander in Verbindung stehen; dabei den Überblick zu behalten, fällt schwer. Was passt: Regisseur Zaman zwingt den Zuschauer in die gleiche Ameisenperspektive wie die Akteure, die oft kaum verstehen, wie ihnen geschieht. Womit er trotz obskurer Details eine erhellende Einsicht vermittelt: Alle Einwanderer schleppen die Kultur ihrer Herkunft wie Pech an den Schuhsohlen mit sich − ob sie mit europäischen Werten vereinbar ist oder nicht.