Wim Wenders

Das Salz der Erde

Sebastião Salgado spricht über seine Fotografie. © Donata Wenders / NFP*. Fotoquelle: NFP
(Kinostart: 30.10.) Panorama der Welt in Schwarzweiß: Sebastião Salgado fotografierte die unwirtlichsten Winkel der Erde. Er sah unsagbares Leid und strahlende Schönheit. Davon erzählt er Regisseur Wenders in der Dunkelkammer – ein fabelhaftes Porträt.

Er ist einer der berühmtesten lebenden Brasilianer, der nicht Fußball spielt oder Musik macht. Dabei geht Sebastião Salgado einer altmodischen Tätigkeit nach: Er fotografiert mit einer analogen Leica-Kamera. Für jede Bilder-Serie nimmt er sich etliche Monate oder gar Jahre Zeit. Und sie sind immer in Schwarzweiß.

 

Info

 

Das Salz der Erde

 

Regie: Wim Wenders + Juliano Ribeiro Salgado,

109 Min., Frankreich 2014;

mit: Sebastião Salgado

 

Website zum Film

 

Sein Werk wurde hierzulande durch den Bildband „Arbeiter“ bekannt; der erschien 1993 quasi zur Unzeit. Ende des Kalten Krieges, Spaßkultur und Anfänge des Internet – alles versprach, leichter, fröhlicher und virtueller zu werden. Da legte Salgado seine schwere, schwarze Studie „zur Archäologie des Industriezeitalters“ vor. Sie enthielt lauter Porträts hart schuftender Malocher auf Baustellen, in Fabriken und Werften – von wegen Digitalisierung.

 

Halbnackte schürfen im Ameisenbau

 

Großes Aufsehen erregten seine Aufnahmen aus einem brasilianischen Goldbergwerk: Tausende halbnackter Habenichtse schürfen mit primitivstem Gerät in einem riesigen Krater. Das von Leitern und Halteseilen gespickte Schlammloch wirkt wie ein monströser, aufgerissener Ameisenbau, in dem es von emsigen Insekten wimmelt. So unwürdige, unmenschliche Arbeitsbedingungen sah man im Westen seit 100 Jahren nicht mehr.


Offizieller Filmtrailer


 

Exil in Paris, Arbeit in Anden + Sahel-Zone

 

Doch Salgado war dieser Anblick aus seiner Heimat vertraut: Er kam 1944 als Sohn von Großgrundbesitzern im Bundesstaat Minas Gerais zur Welt. Nach dem Wirtschaftsstudium in São Paulo engagierte er sich in der linken Protestbewegung gegen die Militärdiktatur und emigrierte mit seiner Frau 1969 nach Paris, wo beide bis heute leben.

 

Vier Jahre später begann er, als professioneller Fotograf zu arbeiten – auf einem unsteten Wanderleben, das ihn in abgeschiedene Weltgegenden führen sollte. Monatelang hauste er unter kargen Bedingungen bei Indios in Mexiko und den Anden von Peru, um ihr archaisches, entbehrungsreiches Dasein zu dokumentieren. Mehrere Reisen führten ihn nach Afrika zu Bewohnern der Sahel-Zone, die vor Dürre und Hunger flohen – oder daran zugrunde gingen.

 

Titanen + Schmerzensmütter

 

Mit seinen Bildreportagen für namhafte Agenturen wollte er dem anonymen Massen-Elend Gesichter geben, aufrütteln und Hilfe mobilisieren. Sie unterscheiden sich drastisch von üblichen Pressefotos mit ihren klischierten Motiven und Szenen. Salgados Bildern merkt man an, wie er geduldig abwartet, bis er mit den Menschen vertraut ist, die er ablichten will.

 

Jede Aufnahme verleiht den Porträtierten Individualität – selbst im Todeskampf. Ihr direkter Blick ins Objektiv suggeriert eine Nähe und manchmal Intimität, die über alle Kulturgrenzen hinweg den Betrachter trifft. Dabei komponiert Salgado seine Bilder sorgsam; er scheut sich nicht, die Dargestellten visuell zu überhöhen oder zu stilisieren. Namenlose Werktätige werden zu Titanen, trauernde Frauen zu Schmerzensmüttern. Strenges Schwarzweiß mit subtilen Graustufen verleiht ihnen zeitlose Patina: als Mahnmale der conditio humana.

 

Bulldozer stapeln Leichenberge

 

Man hat Salgado vorgehalten, er ästhetisiere das Leid und verrate damit dessen Opfer. Doch dieser Vorwurf verkennt, dass engagierte Fotografie mit einer Überfülle von glamour um Aufmerksamkeit konkurriert. Die spröde Direktheit des Dokumentarfotografie-Pioniers Walker Evans ginge in der heutigen Bilderflut völlig unter. Verständlicherweise machen zeitgenössische Nachfolger wie etwa Jimmy Nelson, der verschwindende Kulturen im Bild festhält, häufig Anleihen bei Mode- und Werbefotografie.

 

Dagegen bleibt Salgado stets dezent; seine Sujets gebieten es. Er war dabei, als 1994 nach dem Genozid in Ruanda Hunderttausende von Hutus in die kongolesische Stadt Goma flohen. Als Cholera ausbrach, fotografierte er Leichenberge, die mit Bulldozern gestapelt wurden. Selbst als Flüchtlings-Trecks aus Angst vor Rache panisch in den Dschungel flüchteten, blieb er an ihrer Seite – und registrierte, wie sie dort elend zugrunde gingen.

 

Aufforstung der Familien-fazenda

 

Diese Gräuel traumatisierten ihn. Darüber hinweg half ihm das Umweltschutz-Vorhaben, die fazenda seiner Familie mit Millionen von Baumsetzlingen wieder aufzuforsten. Sowie „Genesis“, sein langwierigstes Foto-Projekt: Gemeinsam mit seinem Sohn Juliano Ribeiro Salgado suchte er entlegene Regionen vom Polarkreis bis zum Urwald auf, um unberührte Naturphänomene abzulichten.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier einen Bericht über den Film “Kathedralen der Kultur” – Episoden-Film über Kultur-Tempel von Wim Wenders und fünf weiteren Regisseuren

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Walker Evans - Ein Lebenswerk" - Retrospektive des US-Dokumentar-Fotografen im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Jimmy Nelson: Before They Pass Away" - Fotografien indigener Völker in der Galerie Camerawork, Berlin.

 

Sein Werk ist weit gespannt wie der Erdkreis und lotet alle Tiefen menschlicher Abgründe aus. Welcher Fotograf würde sich besser für ein filmisches Porträt eignen? Die brasilianische Filmemacherin Betse de Paula begleitete bereits 2012 Salgado mit der Kamera. Doch „Das Salz der Erde“ dürfte ihm ein neues Publikum erschließen.

 

Eremit in eigener Mission

 

Regisseur Wim Wenders nähert sich als bekennender Salgado-Fan seinem Kollegen voller Respekt. Seine Inszenierung beschränkt sich auf eine Idee: In einer Art Dunkelkammer lässt er den Fotografen frontal in die Kamera über seine Bilder sprechen, während sie ihm via Teleprompter angezeigt werden. So schwebt sein markanter Charakterkopf quasi frei im Raum; mit demselben Effekt hatte schon Samuel Beckett seinen späten TV-Stücken eine universelle Aura verliehen.

 

Anschaulich und reflektiert erzählt Salgado chronologisch von seinen Langzeit-Unternehmungen – ohne zu verschweigen, wie sehr dieses Nomadenleben seine Familie belastete. Und ihn selbst; das zeigen Filmaufnahmen, die sein Sohn während des „Genesis“-Projektes in der Arktis machte. Mit Ausrüstung be- und dick in Daunen eingepackt, wartet sein Vater stundenlang auf Kiesdünen, bis er Robben in Aktion vor die Linse bekommt: Ein Eremit in eigener Mission auf der Suche nach einzigartigen Bildern.