Berlin

Die Wikinger

Das Wikingerschiff "Havhingsten fra Glendalough" (Seehengst von Glendalough) in voller Fahrt. Foto: © Wikingerschiffsmuseum in Roskilde / Werner Karrasch; Fotoquelle: SMB
So vergeht der Ruhm der Welt: Vor 1000 Jahren versetzten die Wikinger ganz Europa in Angst und Schrecken. Mittlerweile inspirieren sie nicht einmal mehr Kuratoren: Die Überblicks-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau fällt kleinteilig und fantasielos aus.

Der „Seehengst von Glendalough“ sprengt heran: Vor 1000 Jahren wäre diese Nachricht wohl das Schlimmste gewesen, was Menschen widerfahren konnte. Das Auftauchen von Wikingerschiffen am Horizont verhieß Tod und Verderben. Doch die einst grausamen Seefahrer aus dem hohen Norden sind längst befriedet.

 

Info

 

Die Wikinger

 

10.09.2014 - 04.01.2015

täglich außer dienstags

10 bis 19 Uhr

im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, Berlin

 

Katalog 30 €

 

Website zur Ausstellung

 

Gemächlich segelte Anfang September der Langboot-Nachbau, Prunkstück des Wikingerschiff-Museums im dänischen Roskilde, die Spree flussaufwärts. In Berlin ging der „Seehengst“ werbewirksam nahe des Reichstags vor Anker – wo er sich eine Woche lang neben Lastkähnen und Ausflugsdampfern recht schmächtig ausnahm.

 

Reste von Kiel + Holzplanken

 

Ähnlich bescheiden wirkt der Auftritt der „Roskilde 6“ im Lichthof des Martin-Gropius-Baus. Das mit 37 Metern Länge „größte bislang gefundene Wikingerschiff“ wurde 1997 im Unterwasserschlamm des dortigen Hafens aufgespürt. Genauer: Man fand Reste des Kiels und von ein paar Holzplanken. Der gesamte übrige Bootskörper und das haushohe Rahsegel wurden mit modernem Material ergänzt.


Interview mit Matthias Wemhoff, Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte, + Impressionen der Ausstellung


 

Wikinger hinterließen wenig

 

Ein Blickfang, der zu 95 Prozent rekonstruiert werden musste, ist bezeichnend für diese Ausstellung. Die gezeigten Originalstücke erscheinen dürftig bis kümmerlich; alles Weitere muss man sich vorstellen oder denken. Obwohl gleich drei namhafte Häuser – Dänisches Nationalmuseum, British Museum und das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte – insgesamt 800 Objekte aus ihren reichen Beständen aufbieten, herrscht der Eindruck kleinteiliger Leere. Ein umfassendes Bild von der Welt der Wikinger entsteht jedenfalls nicht.

 

Daran sind einerseits die Nordmänner selbst schuld: Sie hinterließen wenig, das die Zeiten überdauert hätte. Das Meiste fertigten sie aus längst verfaultem Holz. Ihre Runen-Schrift benutzten sie vorwiegend auf kaum transportierbaren Gedenksteinen. Da bleibt nicht viel, was sich ausstellen lässt: Rostige Schwerter und andere Totschläger; etwas Keramik; vor allem fein gearbeiteter Edelmetall- und Elfenbein-Schmuck, im germanischen Tierstil ziseliert. Also Relikte des Luxus, nicht des Hausgebrauchs.

 

Massengrab-Saal voller Skelette

 

Andererseits versäumen es die Kuratoren, diese spärlichen Überreste zum Leben zu erwecken. Aus dem Repertoire multimedialer Ausstellungs-Inszenierung nutzen sie nur ein paar Monitore, auf denen Schiffe die Wellen durchpflügen. Oder Kämpfer die Klingen kreuzen, etwa im Saal zu „Krieg und Eroberung“: Da läuft ein kurzer ARTE-Filmtrailer in Endlosschleife.

 

Darunter sind Skelette von 51 Wikingern aus einem Massengrab des 10. Jahrhunderts aufgemalt, das 2010 im südenglischen Weymouth entdeckt wurde; garniert mit einigen Original-Gebeinen. Vermutlich wurden die Opfer von Sachsen geköpft – sieh einer an! Zumindest sorgen ein Jahrtausend alte Knochen für wohliges Gruseln.

 

Jesus in nordischem Rankenwerk

 

Nebenan baumeln Dutzende von Symbol-Waffen von der Decke. Ihre historischen Vorbilder sind in Reih und Glied aufgebahrt wie früher in fürstlichen Rüstkammern. Bei jedem wird Fertigung und Funktion genau erklärt; ein gefundenes Fressen für Waffenfetischisten. Ziviler gesinnten Gemütern wird dagegen wenig geboten: Über Alltagsleben, Wirtschaftsweise, Sozialstruktur oder Weltanschauung der Wikinger erfährt man kaum etwas.

 

Nur an einer Stelle schält sich aus dem Polardunkel der Geschichte eine konkrete Gestalt: König Harald Blauzahn, der Dänemark einte und das Gebiet von Oslo über Westschweden bis Schleswig beherrschte, wird ausführlich vorgestellt. Um 960 ließ er sich taufen; danach gestaltete er seinen ausgedehnten Königshof im mitteldänischen Jelling gemäß christlicher Symbolik um. Auf der Nachbildung eines Runensteins hängt Jesus nicht am Kreuz, sondern in nordischem Rankenwerk.

 

Anschauliche Boots-Schreinerei

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier einen Bericht über die Doppel-Ausstellung "Die Welt der Kelten" über "Zentren der Macht – Kostbarkeiten der Kunst" im Kunstgebäude und Alten Schloss, Stuttgart

 

und hier eine Rezension des Films “Kon-Tiki” über die legendäre Seereise Thor Heyerdahls von Joachim Rønning + Espen Sandberg

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Dänemarks Aufbruch in die Moderne" in der Hamburger Kunsthalle.

Hier knüpft die Ausstellung einmal an realhistorische Ereignisse an, die sie ansonsten souverän ignoriert. Weder wird erklärt, warum um 800 die Expansion der Wikinger in alle Himmelsrichtungen begann – „viking“ bedeutet: Kriegs- und Raubzug an entfernten Küsten –, noch, warum sie Mitte des 11. Jahrhunderts endete. Auch ihre enormen nautischen und logistischen Leistungen – sie entdeckten Neufundland und trieben Handel bis Konstantinopel und Bagdad – werden nur beiläufig abgehandelt.

 

So gerät das Ganze zur Selbstverständigungs- Schau für Spezialisten, die jüngste archäologische Funde sichten und Detailfragen diskutieren wollen. Das breite Publikum wird mit summarischen Bemerkungen abgespeist. Es erfährt nicht einmal, was die Forschung inzwischen gesichert weiß, und was sie mangels aussagekräftiger Funde nur vermuten kann.

 

Am anschaulichsten ist ausgerechnet der Saal, in dem zwei leibhaftige Handwerker aus Roskilde ein nordisches Drachenkopf-Boot nachbauen; da geht es zu wie in einer Schreinerei. Solch eine fantasielose Präsentation hat die Wikingerzeit, die wie kaum eine andere Epoche bis heute die Fantasie entzündet, nicht verdient.