Otto Dix’ „Mutter mit Kind“ hat so gar nichts vom madonnenhaften Mama-Kindchen-Schema. Im Gegenteil: Die Mutter ist verhärmt; der tägliche Überlebenskampf hat ihr tiefe Furchen ins Gesicht gegraben. Das Baby ist ein faltiger Winzling mit Greisengesicht. Der Verismus dieses Bildnisses von 1923 rührt nicht, aber er tut weh.
Info
Menschliches - Allzumenschliches
Die Neue Sachlichkeit im Lenbachhaus
22.07.2014 - 31.12.2015
täglich außer montags,
10 bis 18 Uhr,
dienstags bis 21 Uhr
in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, Luisenstraße 33, München
Entlassen + entartet oder NS-Mitläufer
Kuratorin Karin Althaus stellt den Gemälden und Zeichnungen aus der Zeit zwischen den Weltkriegen ein Zitat von Gustav Hartlaub voran, der 1925 den Begriff „Neue Sachlichkeit“ mit seiner gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim prägte. Allerdings zieht sie seine Unterteilung in einen „linken Flügel“ der Veristen und „rechten Flügel“ der Klassizisten in Zweifel: Diese Einteilung greife nur bedingt.
So stellt sie etwa Georg Schrimpfs Porträt des Dichters Oskar Maria Graf von 1918 – beide Künstler standen damals weit links – dem Bild „Mädchen in südlicher Bucht“ gegenüber, das der Künstler 1923 schuf. Dessen magischer Realismus wurde dem „rechten Flügel“ zugeordnet; doch die Nazis entließen Schrimpf 1937 als Hochschul-Professor wegen seiner linken Vergangenheit. Nun galten seine Werke als „entartet“; wie die von Josef Scharl, der vor dem Regime fliehen musste. Andere Maler wie Franz Doll dienten sich erfolgreich der NS-Kunstideologie an.
Ehe- oder Bordell-Szene
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung “Wien – Berlin: Kunst zweier Metropolen von Schiele bis Grosz” in Berlin + Wien
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Dix/Beckmann: Mythos Welt" in der Hypo-Kunsthalle, München
und hier einen Bericht über die Ausstellung “Blickwechsel: Pioniere der Moderne” – mit Werken von Otto Dix in der Neuen Pinakothek, München
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Helmut Kolle: Ein Deutscher in Paris" – Werkschau zur Wiederentdeckung des neusachlichen Malers in Chemnitz + Hamburg.
Aus der Ausstellung „Wien – Berlin“, die in der Berlinischen Galerie und im Belvedere zu sehen war, kommt Lotte Lasersteins Bildnis „Im Gasthaus“. Die lesbische Jüdin Laserstein emigrierte 1937 nach Schweden. Ihr Porträt einer Frau allein in der Kneipe erinnert an Realisten des 19. Jahrhunderts, stellt aber thematisch eine rebellische Selbstbehauptung dar.
OP-Patient als Mantegna-Christus
Die eigene Kollektion des Lenbachhauses hat ebenfalls einiges zu bieten; etwa Rudolf Schlichters berühmtes Porträt von Bertold Brecht mit Zigarre und Auto. Oder Christian Schads spektakuläre „Operation“: In der Mitte ist der Patient in extremer perspektivischer Verkürzung zu sehen wie der Erlöser in der berühmten „Beweinung Christi“ (um 1480) von Andrea Mantegna. Die Szene wurde zwar nachgestellt, entstand aber auf Basis realer Beobachtungen im OP.
Darüber hinaus wurde Erstaunliches aus dem Depot hervorgeholt: Wilhelm Heise rückt in „Verblühender Frühling – Selbstbildnis als Radiobastler“ die damals neue Technik mit skeptischer Faszination ins Bild. Erna Dinklage träumt sich als bukolisch-utopische „Hirtin“ weit weg aus der harten Wirklichkeit der Weimarer Republik. Und Alfred Hawels „Selbstbildnis als Gruppenbild“ lässt eine multiple Persönlichkeit im kalten Licht der Neuen Sachlichkeit umso facettenreicher schillern.