Fatih Akin

Einen Supertanker durch den Bosporus lenken

Fatih Akin bei den Dreharbeiten zu "The Cut". Fotoquelle: Pandora Filmverleih
Mit "The Cut" greift Fatih Akin ein türkisches Tabu-Thema auf: den Völkermord an den Armeniern. Die märchenhaft poetische Form eines Helden-Epos soll bewirken, dass auch Faschos länger als 15 Minuten zusehen, erklärt der Regisseur im Interview.

Weder chronologisch…

 

Welche Kompromisse mussten Sie für den Film eingehen? Ihr Vorhaben eines Films über den ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink scheiterte daran, dass sich türkische Schauspieler weigerten, daran mitzuwirken. Wie war es bei diesen Dreharbeiten?

 

Ich habe bei diesem Film zwei technische Kompromisse gemacht. Erstens habe ich den Film nicht chronologisch gedreht – was den Vorteil gehabt hätte, dass alle Beteiligten wissen, wo die Figuren emotional gerade stehen. Doch einen Film in dieser Größenordnung zu steuern, ist wie der Versuch, einen Supertanker durch den Bosporus zu lenken. Dagegen sind Filme wie „Gegen die Wand“ wie kleine Yachten, die viel mobiler sind; wenn etwas nicht klappt, kann man es noch einmal drehen.

 

Bei „The Cut“ ging das nicht. Allein bis zur Sichtung des Rohmaterials dauerte es jeweils eine Woche. Ich dachte mir: Coppola, David Lean und Kurosawa haben so gearbeitet; lasst uns das doch beschwören! Wir haben zuerst in Havanna gedreht. In diesen Szenen sieht man die Aufgeregtheit und Freude des Anfangs; vielleicht ist das unpassend.

 

… noch Armenisch

 

Ich dachte mir: Nazaret kommt in eine neue Welt, es muss ihn überfallen. Doch hätte ich zuerst den ganzen Teil in der jordanischen Wüste gedreht, hätte ich zu Tahir Rahim gesagt: Du schaust Dir nichts an, Du suchst nur Deine Töchter.

 

Der zweite Kompromiss betrifft die Sprache. Wenn man mit 200 Komparsen und einer Crew von 70 Leuten bei 40 Grad in der Wüste dreht, will man ausschließen, dass zwei Dialogtrainer einwenden, das Armenisch sei nicht korrekt. Dann konzentrieren sich Schauspieler nur noch auf ihren Akzent anstatt auf ihr Gefühl. Daher habe ich den Film auf Englisch gedreht.

 

Schweigen wie in Stummfilmzeit

 

Hauptdarsteller Tahir Rahim verliert im ersten Drittel seine Stimme. Warum lassen Sie ihren Helden verstummen?

 

Erstens mag ich Filme, in denen nicht so viel gequatscht wird. Visuelle Handlungsstränge können einen Sog entfalten, der mehr vermittelt als viele Dialoge. Zweitens findet alles in der Stummfilmzeit statt. Als ich zur Recherche viele Stummfilme ansah, war ich ergriffen, wie gut ihre Stilmittel funktionieren.

 

Das wollte ich übernehmen. Drittens durfte man das Wort Völkermord in der Türkei lange nicht benutzen; man wurde dafür angefeindet und quasi stumm geschaltet. Das brachte mich auf die Idee, den Helden verstummen zu lassen.

 

Axt teilt Armenier-Baum entzwei

 

Der Film erzählt über den Völkermord hinaus auch die Geschichte der armenischen Diaspora. Eine dramaturgisch kühne Konstruktion: Die Katastrophe steht am Anfang wie ein Wellenberg, dann läuft die Welle zwei Stunden lang aus.

 

Wenn man sich mit dem Völkermord beschäftigt, kommt man nicht darum herum, auch die Diaspora zu berücksichtigen: Sie ist fundamental für die armenische Geschichte. Ich war am Genozid-Mahnmal in der armenischen Hauptstadt Eriwan. Da steht eine Statue; sie symbolisiert einen Baum, der durch eine Axt entzwei geteilt ist: „The Cut“.

 

Die Axt ist der Völkermord. Die zwei Hälften des Baums stehen für die Armenier in der Heimat und diejenigen, die in alle Winde verstreut sind. Jeder Überlebensbericht erwähnt Städte wie Aleppo, Port Said und Marseille; dem wollte ich so gerecht wie möglich werden.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Cut" von Fatih Akin

 

und hier Besprechung des Films “Müll im Garten Eden” -  engagierte Umwelt-Dokumentation von Fatih Akin

 

und hier einen Bericht über den Film "Le Passé – Das Vergangene" - Beziehungs-Drama mit Tahar Rahim von Asghar Farhadi

 

Einerseits ist der Film sehr konventionell und klassisch gedreht worden, andererseits wird er sehr unkonventionell erzählt. Dieser Bruch schafft eine Art Vertigo-Effekt. Ob das aufgeht oder nicht, muss die Zeit zeigen; auch ich weiß das erst in zehn Jahren. Bei den Zuschauern scheint es emotional zu funktionieren, weil sie am Ende doch recht mitgenommen sind.

 

So sieht meine Western-Version aus

 

Welche Rolle haben große Kino-Epen als Vorbilder für Sie gespielt?

 

Ich wollte mein Leben lang einen Film machen, der von Weite handelt und sie angemessen fotografiert. Ich wollte auch schon immer einen Western machen – so sieht eben meine Version eines Westerns aus. Jeder kann heute Filme machen, was in Ordnung ist. Doch in dieser Überfülle wollte ich eine Brücke zu Filmen schlagen, die mich geprägt haben: von David Lean, Sergio Leone oder Elia Kazan.

 

„The Cut“ soll nicht nur einen Impuls geben, sich mit dem Völkermord zu beschäftigen, sondern auch, sich Filme wieder anzusehen, die fast vergessen sind; vor allem bei der jüngeren Generation. Welcher 15-Jährige kennt heute noch Akira Kurosawa? Der Film will helfen, am Leben zu erhalten, was sich große Geister ausgedacht haben.