Todeslager im Studio Babelsberg
Auf der Suche nach seinen Töchtern trudelt er von Land zu Land, wird willkürlich gedemütigt und gerettet, trifft wundersamerweise stets die Richtigen – doch letztlich verschlägt es ihn in ein Staubnest in North Dakota. Trister geht’s nimmer: Als wäre der antike Odysseus am Ende nicht im heimischen Ithaka, sondern auf der unwirtlichen Krim gelandet.
Was als Auswanderer-Chronik kaum plausibel wäre, verpackt Regisseur Akin in ein Gleichnis mit parareligiösen Zügen. Der Held heißt nicht zufällig wie der Erlöser und hat Visionen; sein Leidensweg führt wie der Kreuzweg direkt ins Jammertal. Dass sein Abstecher ins Todeslager von Ras al-Ayn im Studio Babelsberg gedreht wurde, erkennt man leicht: Malerisch lagern Verschmachtende wie auf barocken Grabmälern; so akkurat mit Sand bepinselt, wie es kein Wüstensturm hinbekäme.
Eigentümlich überzeitliche Atmosphäre
Bei dieser Fokussierung auf ein Einzelschicksal fällt der historische Rahmen weg. All die eingangs genannten Fakten, Akteure und Motive spielen im Film keine Rolle. Hier erscheint der Genozid nicht politisch gewollt, sondern wie eine rätselhafte biblische Plage, die über ein harmloses Völkchen hereinbricht. Das mögen die damaligen Opfer so empfunden haben, doch heutige Zuschauer erfahren kein Jota mehr. Als sei in 100 Jahren nichts weiter geklärt worden.
Vielleicht hat Fatih Akin genau diese eigentümlich überzeitliche Atmosphäre beabsichtigt. Weil sein Werk nicht primär auf ein Publikum abzielt, das mit Vergangenheitsbewältigung und Volkspädagogik vertraut ist, sondern auf ein anderes: „The Cut“ wird auch in der Türkei anlaufen. Um dortigen Kinogängern diese bittere Pille schmackhaft zu machen, haben Merkmale, die in westlichen Historienfilmen befremdlich wirken, ihren guten Sinn.
Hauptfigur ist ein Held des hüzün
Unter Genre-Kategorien betrachtet, ist „The Cut“ ein Melodram: Trotz aller Wechselfälle bleibt das heiße Bemühen des stummen Helden schließlich vergeblich. Solche Melodramen über unverschuldete eigene Ohnmacht sind im türkischen Kino seit jeher beliebt – wohl, weil sie das Lebensgefühl weiter Kreise spiegeln. Dafür gibt es den schwer übersetzbaren Begriff hüzün. Er meint mehr als schlichte Melancholie oder Resignation; eher das bittersüße Bewusstsein, dass auch im Scheitern wahre Größe liegen kann.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier ein Interview mit Fatih Akin über "The Cut"
und hier eine Besprechung des Films “Müll im Garten Eden” - Doku über Umwelt-Sünden in der Türkei von Fatih Akin
und hier einen Bericht über den Film "Le Passé – Das Vergangene" - Beziehungs-Drama mit Tahar Rahim von Asghar Farhadi
und hier einen Beitrag über den Film "Anduni - Fremde Heimat" über Armenier in Deutschland von Samira Radsi
Überraschungs-Erfolg in Türkei?
So gelingt Regisseur Akin, indem er alle melodramatischen Konventionen getreulich beachtet, das bislang Unmögliche: ein Armenier, der als Identifikationsfigur für Türken taugt. Womit er mehr für die empathische Annäherung von Erzfeinden erreicht hätte als Dutzende von Historiker-Kommissionen, deren Berichte einfache Erdogan-Wähler nie lesen.
Deshalb lohnt sich, „The Cut“ anzusehen: nicht als definitiven Aufklärungsfilm über den Völkermord, den Akin gar nicht drehen wollte, sondern als erhellenden Einblick in Erwartungen und Geschmack des türkischen Publikums. Dieses gewagte Kino-Experiment wird es auf dem westlichen Markt sicherlich schwer haben – in der Türkei könnte es zum Überraschungs-Erfolg werden.