Unspektakulärer geht es kaum: Da sitzen drei Leute in einem aseptisch weißen Hotelzimmer zusammen und reden unentwegt. Über die Arbeitsweise von Regierungsbehörden, Datenaustausch und allerlei technische Details, die nur IT-freaks wirklich verstehen. Und das soll der Polit-Thriller des Jahrzehnts sein? So ist es.
Info
Citizenfour
Regie: Laura Poitras,
114 Min., USA/ Deutschland 2014;
mit: Edward Snowden, Glenn Greenwald, Jacob Appelbaum
Dokus aus Irak + Jemen
Gefilmt wird das konspirative Treffen von Laura Poitras; die US-Regisseurin hat sich mit waghalsigen Polit-Dokumentarfilmen einen Namen gemacht. „My Country, My Country“ (2006) über den Alltag einer irakischen Familie in Bagdad wurde für einen Oscar nominiert. „The Oath“ von 2010 porträtierte einen früheren Glaubenskrieger und Leibwächter von Osama bin Laden, der heute als Taxifahrer in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa lebt.
Offizieller Filmtrailer
Konspirative Kontaktaufnahme
Mit solchen Sujets geriet Poitras ins Visier der US-Behörden; um Schikanen zu entgehen, zog sie 2012 nach Berlin um. Dort wird sie im Januar 2013 von Snowden unter dem Decknamen „Citizenfour“ über verschlüsselte Emails kontaktiert. Die Filmemacherin stellt die Verbindung zu den „Guardian“-Reportern her. Anfang Juni treffen sich die Vier in Hongkong – und verschanzen sich acht Tage lang im Hotelzimmer.
Worum es geht, ist längst Allgemeinwissen; zumindest für an Datenschutz Interessierte. Über das US-Überwachungsprogramm PRISM, die britische Variante „Tempora“, die Software „XKeyscore“ zum Ausspionieren einzelner Personen sowie das Abschöpfen von Regierungen in Partner-Staaten hat die Presse ausführlich berichtet. Allerdings kann das keiner so bündig, klar und leidenschaftlich erklären wie Snowden selbst.
Computer-Experte als lebendiges Wesen
Damit wird er erstmals als lebendiges Wesen fassbar; bislang blieb der berühmteste Mann des Jahres 2013 in unserer übermedialisierten Gegenwart beinahe unsichtbar. Sicher, es gibt ein zwölfminütiges Video-Interview mit ihm auf der „Guardian“-Website. Und am 26. Januar sendete die ARD ein halbstündiges Gespräch aus seinem Moskauer Exil. Doch beide Auftritte wirken wie einstudiert: Mit totaler Selbstbeherrschung gibt Snowden in druckreifen Worten Auskunft. Kein Wunder; er hatte genug Zeit, sich vorzubereiten.
Im Hotelzimmer hält der damals 29-Jährige die Rolle des hyperrationalen, alles mitbedenkenden Computer-Experten nicht dauerhaft durch. Und siehe da: Snowden hat Humor, macht gern ironische Scherze, ist öfter nachdenklich in sich gekehrt und kann auch entspannen, wenn er sich in T-Shirt und Bademantel lässig auf dem Bett ausstreckt.
Unerreichbare Stadt draußen
Dazu mag Hongkongs schwüle Hitze jenseits des Fensters verlocken. Aber die Stadt draußen bleibt unerreichbar; mit seiner Enttarnungs-Entscheidung hat der whistle-blower seine Bewegungsfreiheit verloren. Dafür gibt er andeutungsweise Einblicke in sein Innenleben, wenn er von Hoffnungen spricht, was die Enthüllungen bewirken mögen – und seinen Ängsten, was ihm bevorstehen könnte.
Als nach einer Woche die Bombe in den Weltmedien platzt, zerstreut sich das Quartett. Snowden wird von WikiLeaks-Aktivisten nach Moskau geschleust; dorthin folgt ihm im Juli seine Freundin Lindsay Mills nach. Eine kurze Szene zeigt, wie beide in einer Art Blockhaus kochen – in der Dunkelheit von außen gefilmt, wie von einer Überwachungs-Kamera.
Stille nach Schock + Empörung
Da ihr die Hauptfigur abhanden kam, füllt Regisseurin Poitras ihren Film mit anderen Datenschutz-Aktivisten auf. Etwa Jacob Applebaum, US-Spezialist für Verschlüsselungstechnologie und WikiLeaks-Unterstützer, der im EU-Parlament vor der NSA warnt. Oder NSA-Dissident William Binney, der nach 37 Dienstjahren 2001 aus Protest gegen die Totalüberwachung ausstieg; er sagt als Zeuge vor dem NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags aus.
Alles richtig und wichtig, aber doch nur Variationen des Bekannten – und Schnee vom Vorjahr. So groß Schock und Empörung weltweit waren, so wenig ist seither geschehen. Weil offensichtlich alle westlichen Geheimdienste ins internationale Netzwerk illegaler Datenüberwachung mehr oder weniger verstrickt sind – jeder mit seinen Möglichkeiten. Und keine Regierung diese exklusive Waffe im Machtpoker freiwillig preisgibt; Verfassungsrechte hin oder her.
Seelenruhe vor der nächsten Stasi
Damit entpuppt sich die Exekutive erneut als das, was sie schon immer war: ein gefräßiges Monster, dessen Kontrollwut nur technische Grenzen kennt – die fallen im digitalen Zeitalter weg. Und die Regierten bestätigen alle pessimistischen Prognosen liberaler Staatstheoretiker der Vergangenheit: Konsum und Sicherheit sind ihnen wichtiger als Freiheit und Privatsphäre.
Es ist ja so bequem, online bei Amazon oder Zalando zu shoppen, Katzenfotos bei Facebook zu posten oder mit WhatsApp zu chatten. Zumal immer irgendeine Terrorgruppe oder andere Bösewichter brave Bürger bedrohen; die beruhigt sehr, dass fürsorgliche Behörden alles im Blick haben. Ihre sorglose Seelenruhe ist kaum zu erschüttern, solange nicht die nächste Stasi nachts reihenweise Leute abholt und wegsperrt. Oder der eigene Job wegfällt, weil der Arbeitgeber pleite geht, nachdem er von Konkurrenten mit guten Agenten-Kontakten ausgeforscht wurde.
„Größte Furcht ist, dass sich nichts ändert“
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier den Artikel "The Holder of Secrets" von George Packer in der US-Zeitschrift "The New Yorker" über die Entstehungsgeschichte von "Citizenfour"
und hier eine Besprechung der Doku “We Steal Secrets: The Story of WikiLeaks” – anschauliche Doku von Alex Gibney mit Julian Assange
und hier einen kultiversum-Beitrag über die Doku "The Oath" - Porträt eines früheren Leibwächters von Osama bin Laden von Laura Poitras.
Denn die Erinnerung an frühere Tyranneien ist längst verblasst; es fehlt das Memento einer Diktatur, die als ständige Gefahr präsent ist, wie es die vor Atomraketen strotzende Sowjetunion war. Anders lässt sich kaum erklären, wie achselzuckend Amerikaner und Briten die skandalösen und illegalen Praktiken ihrer Geheimdienste hinnehmen.
Zurück in die Tiefgarage
Vor 40 Jahren brachte eine Abhör-Affäre noch den republikanischen US-Präsidenten zu Fall: 1974 musste Richard Nixon wegen des Watergate-Skandals zurücktreten – er hatte das Hauptquartier der Demokraten verwanzen lassen. Nun lässt ein demokratischer Präsident, der sich auf die Tradition der US-Bürgerrechtsbewegung beruft, die ganze Welt belauschen und unzählige Killer-Drohnen im Ausland steuern – und denkt nicht daran, das einzustellen.
Da bleibt im Notfall nur eine Tiefgarage als Treffpunkt, empfiehlt William Binney: Wie 1972, als die Quelle „Deep Throat“ dort zwei „Washington Post“-Reporter mit Informationen fütterte, die den Watergate-Skandal auslösten.