Erstaunlich, was man in der Londoner National Gallery alles erleben kann – außer natürlich Bilder zu betrachten: Man kann Aktzeichnen lernen, Gedicht-Rezitationen und Konzerten lauschen, Tanz-Performances zusehen oder gar – erschöpft durch lauter highlights – vor Meisterwerken wie van Eycks „Arnolfini-Hochzeit“ oder der „Venus im Spiegel“ von Velazquez einschlafen.
Der US-Filmemacher Frederick Wiseman hat für seinen dreistündigen Dokumentarfilm über eines der bedeutendsten Museen der Welt 2011/12 drei Monate dort verbracht. Während dieser Zeit lockten zwei spektakuläre Ausstellungen über Leonardo da Vinci sowie William Turner im Vergleich mit Claude Lorrain Scharen von Schaulustigen an.
Dem Zeitgeist ausgesetzt
Wiseman zeigt die ehrwürdige Institution nicht nur als Hort unermesslicher Kulturschätze, sondern auch als öffentlichen Raum, der ebenso dem Zeitgeist ausgesetzt ist wie die Welt draußen auf dem Trafalgar Square. Da wird die Verortung des Museums im 21. Jahrhundert, im Zeitalter sinkender Etats und steigender Meeresspiegel erörtert.
Offizieller Filmtrailer OmU
Als stummer Zeuge zuschauen
Ebenso beschäftigt die überwiegend weiblichen Mitarbeiter, ob sie einen am Trafalgar Square startenden Benefiz-Marathon für Eigen-PR nutzen oder als traditionell gemeinnützige Kulturerbe-Bewahrer eher Abstand zum allzu Populären wahren sollen – was der Direktor für richtig hält, seine Kolleginnen jedoch nicht.
All das dokumentiert Wiseman mit den Methoden des Direct Cinema: Er kommentiert weder seine Protagonisten noch den Kontext, in dem sie agieren. Die Kamera schaut als stummer Zeuge Besuchern wie Kunstexperten zu und hält Reaktionen in den Gesichtern der Betrachter fest; sie sind allesamt Suchende zwischen Skepsis, Erkenntnis, Ehrfurcht und Faszination.
Kunst in Worte + bewegte Bilder verwandeln
Kuratoren, Restauratoren und Museumsführer lässt Wiseman die Rolle ihres Lebens spielen – die sie mit beneidenswerter Nonchalance und Hingabe erfüllen. Der Regisseur nimmt sich viel Zeit, ihnen bei der Arbeit zuzusehen; dabei verwandelt er die Kunstwerke in Worte und bewegte Bilder.
Bei den Bilderklärungen konzentriert sich Wiseman auf ein paar berühmte Meisterwerke der Kollektion. Man erfährt etwas über die subtile Psychologie in Rubens’ „Samson und Delilah“ und den ursprünglichen Standort des Gemäldes. Es hing im Haus des Bürgermeisters von Antwerpen oberhalb des Kamins; darauf hat einst der Maler die Lichtregie fein abgestimmt.
Stifter war Sklavenhändler
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Das große Museum" - Doku von Johannes Holzhausen über das Kunsthistorische Museum in Wien
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Tat Ort Museum" über die Aktivitäten eines großen Museums im Wallraf-Richartz-Museum, Köln
und hier ein Interview mit Frederick Wiseman über seinen Film "La danse: Das Ballett der Pariser Oper".
Interessanterweise verdankt die National Gallery ihre Existenz eigentlich der Sklaverei, wie eine Führerin erklärt: John Julius Angerstein (1732-1823), einer der bedeutendsten Museums-Stifter, verdiente mit dem Sklavenhandel in Grenada ein Vermögen. Er war auch einer der Gründer der Lloyds-Versicherung, die in ihren Anfängen Sklavenschiffe versicherte.
Goldener Löwe für Lebenswerk
„National Gallery“ ist ein wunderbarer ruhiger, zeitloser Film für Museums-Reisende und Kunst-Kenner. In demselben neugierig umherschweifenden und zugleich bedächtigen Stil, in dem Frederick Wiseman seit Jahrzehnten Dokumentarfilme über Institutionen und dort arbeitende Menschen dreht; dafür erhielt er beim diesjährigen Filmfestival in Venedig den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk.
Allerdings wünscht man sich manchmal, der Regisseur ließe sich und uns beim Blick auf die Bilder noch ein wenig mehr Zeit; nicht immer sind besprochene Details ausreichend lange zu sehen. Das mindert aber nicht den Gesamteindruck. Am Ende lässt Wiseman einige der lebendig wirkenden Persönlichkeiten, die Rembrandt porträtierte, auf uns zurückschauen. Da wird sein Film zur Lektion in Vergänglichkeit.