Abderrahmane Sissako

Timbuktu

Satima (Toulou Kiki) in den Händen religiöser Fundamentalisten. Foto: Arsenal Filmverleih
(Kinostart: 11.12.) Leben im Dschihad-Faschismus: Der mauretanische Regisseur Sissako schildert den Alltag in der Sahara-Stadt, die 2012 von Islamisten-Milizen beherrscht wurde – als unaufgeregte Studie über die Zerschlagung aller zivilen Ordnung.

Symbolkräftiger kann ein Auftakt kaum sein. Auf einem Felsen stehen Holzfiguren der Dogon in Mali – fein geschnitzte Statuetten, die vom Reichtum dieser 1000 Jahre alten schwarzafrikanischen Kultur künden. Dann mähen Maschinengewehr-Salven binnen Sekunden die Figuren nieder; übrig bleiben Trümmer.

 

Info

 

Timbuktu

 

Regie: Abderrahmane Sissako,

97 Min., Mali/ Frankreich 2014;

mit: Ibrahim Ahmed, Toulou Kiki, Abel Jafri

 

Weitere Informationen

 

Das ist bereits die brutalste Action-Szene des Films. Mehr Waffengewalt braucht der mauretanische Regisseur Abderrahmane Sissako nicht, um den Terror religiöser Fundamentalisten in Nordafrika darzustellen. 2012 kontrollierten zwei Islamisten-Milizen neun Monate lang die Oasenstadt Timbuktu im Norden Malis; sie wurden im Januar 2013 von französischen und malischen Truppen vertrieben.

 

Kammerspiel ohne Kriegsgeschrei

 

Doch auf Kriegsgeschrei und Schießereien verzichtet Regisseur Sissako völlig. Auch die Zerstörung von Mausoleen und Bibliotheken in Timbuktu durch Islamisten lässt er außen vor. Stattdessen konzentriert er sich auf den Alltag unter ihrem Regime; wie sie die Einwohner entrechteten, schikanierten und demütigten. Das ergibt trotz atemberaubender Aufnahmen vom Niger-Fluss und der Sahara paradoxerweise eine Art Kammerspiel: als unaufgeregte Studie über die Gewaltherrschaft von Fanatikern.


Offizieller Filmtrailer


 

Surreales Männer-Ballett in Staubwolken

 

Die Dschihadisten, die in die Stadt einziehen, sind Ausländer: milchbärtige Freiwillige und zynische Anführer. Sie erhalten Befehle via Satelliten-Telefon in gebrochenem Englisch, denn ihr Arabisch ist noch miserabler. Den Sinn der drakonischen Vorschriften, die sie einführen, können sie selbst kaum erklären: keine Musik, keine Zigaretten, kein Müßiggang, kein Sport. Ihre neuen Untertanen sträuben sich dagegen. In der vielleicht stärksten Szene wird einem Fußballteam der Ball weggenommen – und die Spieler kicken weiter. Ohne Ball; ein beinahe surreales Männer-Ballett in Staubwolken.

 

Mit Koran-Zitaten auf den Lippen tyrannisieren die Kämpfer ihre Mitbürger. Einem von ihnen gefällt eine junge Städterin. Ihre Mutter will sie ihm nicht zur Frau geben; flugs wird die Braut entführt und zwangsverheiratet. Mama ruft den Imam als zivilrechtliche Autorität an; er lädt die Kämpen vor. Sie marschieren bewaffnet ins Gotteshaus, müssen sich anhören, gegen wie viele Scharia-Gesetze sie verstoßen haben – und lachen den Gelehrten aus: Den Koran verstünden sie selbst am Besten.

 

Doppelherrschaft von Ideologie + Willkür

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Woodstock in Timbuktu – Die Kunst des Widerstands" - fesselnde Doku über ein Touareg-Festival in Mali von Désirée von Trotha

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung Dogon – Weltkulturerbe aus Afrika – umfassender Überblick über Kunst + Kultur in Mali in der Bundeskunsthalle, Bonn

 

und hier einen Beitrag über den Film "The Green Prince" - faszinierende Doku über das Doppelleben des Sohns eines Hamas-Gründers als israelischer Agent von Nadav Schirman.

 

Neben solchen Episoden kommunaler Anomie treten auch Hauptfiguren auf: Viehzüchter Kidane (Ibrahim Ahmed dit Pino) und seine Familie hausen in einem Wohnzelt unweit der Stadt. Seiner Frau Satima (Toulou Kiki) macht ein Dschihadisten-Kommandant den Hof, doch sie gibt ihm Körbe. Dann geschieht ein Unglück: Im Streit mit dem Fischer Amadou über eine getötete Kuh bringt Kidane ihn versehentlich um. Damit hat er sein Leben verwirkt – sein Nebenbuhler beseitigt ihn.

 

Da wird eine Form von Doppelherrschaft deutlich, die schon den Faschismus kennzeichnete: einerseits ein grausames ideologisches Regelwerk, das angeblich auf Gottes Geboten gründet. Andererseits völlig willkürliche Entscheidungen der Befehlshaber nach dem Motto: „Was im Koran steht, bestimme ich!“

 

Eroberer ertragen + verjagen

 

Diese Mordbuben-Logik hat mit Religion nicht das Geringste zu tun. Ihre Wortführer sind machtgeile Emporkömmlinge; ihre Handlanger arme Teufel, die nichts zu verlieren haben. Sie berufen sich nur deshalb auf den Propheten Mohammed, weil es in der islamischen Welt keine andere allseits anerkannte Autorität gibt.

 

Die Zerschlagung aller zivilen Ordnung führt Regisseur Sissako geradezu unheimlich gelassen vor. Er vertraut ganz auf die Wirkung seiner zum Teil betörenden Bilder: keine Anklage, kein moralischer Protest, sondern eine elegische Chronik der schaurigen Ereignisse. Vielleicht muss man in der Region beheimatet sein, um solches Unheil so gefasst zu registrieren. In seiner 1000-jährigen Geschichte hat Timbuktu etliche Eroberer ertragen; auch die jüngsten wurden – zumindest vorerst – wieder verjagt. Fortsetzung in Syrien und Nordirak folgt.