
Die zentralanatolische Region Kappadokien wirkt so fremdartig wie der Mars. Vielerorts stehen Hügel aus Tuffstein, die wie Hauben oder Glocken aussehen. Sie wurden schon vor Jahrtausenden ausgehöhlt und bewohnt; in ihnen versteckten sich Menschen vor Angreifern. Später legten Christen darin Kirchen an. Heute wird rund um die Stadt Göreme Wein angebaut; im Sommer kommen Touristen. Ansonsten liegt die Gegend im Dämmerschlaf.
Info
Winterschlaf
Regie: Nuri Bilge Ceylan,
196 Min., Türkei/ Deutschland/ Frankreich 2014;
mit: Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Demet Akbağ
Auf Türschwelle um Miete feilschen
Aydın war früher Schauspieler; nicht ohne Erfolge, aber der große Durchbruch blieb aus. Nun lebt er zurückgezogen in der Provinz von seinem Vermögen; dazu zählen mehrere Häuser, in denen bescheidene Leute wohnen. Wenn ihre Miete überfällig ist, steht er bei ihnen auf der Türschwelle: Dann beginnen langwierige Verhandlungen über Fristen und Stundung.
Offizieller Filmtrailer
Artikel, die keiner liest + Geld, das verbrennt
Ganz mit der Bühne abgeschlossen hat Aydın noch nicht: Er will eine Geschichte des türkischen Theaters verfassen. Doch seine Arbeit am opus magnum kommt nicht voran, weil er eher Anderes schreibt: etwa moralisierende Kolumnen für eine Lokalzeitung, die „kein Mensch liest“, wie seine Schwester Necla spottet. Sie floh aus ihrer gescheiterten Ehe in Istanbul und weiß nun wenig mit sich anzufangen – weil sie „faul und feige“ sei, hält der Bruder ihr vor.
Dagegen engagiert sich Nihal im örtlichen Wohltätigkeits-Zirkel, dessen Mitglieder sie für Beratungen ins Hotel einlädt; zum Unwillen ihres Mannes, der diese Leute für Dilettanten hält. Großmütig bietet er an, die Buchhaltung ihres Vereins in Ordnung zu bringen, womit er aber nicht zurande kommt – und seine Frau brüskiert. Sie wirft ihm übergriffigen Paternalismus vor: Ständig würge er ihre Initiative ab. Als sie aber mit großer Geste einem armen Teufel einen Batzen Geld schenkt, muss sie entsetzt mitansehen, wie er das Bündel ins Feuer wirft.
Kleines zum Stillstand verdammtes Reich
Bevor die Protagonisten so deutlich werden, vergehen viele Minuten, die sich aber nie ziehen. In ausführlichen Gesprächen werden alle Charaktere eingeführt und vorgestellt. Allen voran Aydın: Er liebt es, seine Ansichten wortreich auszubreiten, wohlklingende Allgemeinplätze aneinander zu reihen und seinen Zuhörern raffiniert zu schmeicheln – bis er sie nach Gusto stichelt, durch Affront schurigelt oder rhetorisch an die Wand nagelt. Hauptsache, er behält Oberwasser und alle Fäden in der Hand.
Gegen seinen Patriarchen-Narzissmus kommt in diesem Nest keiner an. Weder die gebildete Schwester noch seine junge Frau: Beide haben, da finanziell abhängig, Beißhemmungen. Alle übrigen Dörfler sind ihm sowieso nicht gewachsen. So zieht Aydın einsam seine Kreise: Zähneknirschend geachtet und zuweilen gefürchtet, verdammt er sein kleines Reich zum Stillstand. Was der Film in hinreißend schönen Cinemascope-Landschaftsaufnahmen einfängt.
Tschechow-Lähmung + Bergman-Lebenslügen
Nicht von ungefähr erinnert diese Konstellation an die Dramen von Anton Tschechow; ihn zählt Regisseur Nuri Bilge Ceylan zu seinen wichtigsten Inspirationsquellen. In vielem erscheint „Winterschlaf“ wie eine Reprise des „Kirschgartens“: lähmende Unentschiedenheit und hochfliegende Ziele, die durch dauerndes Palaver restlos zerredet werden. Bei Tschechow war Moskau der Sehnsuchtsort, den alle beschworen und nie erreichten; nun heißt er Istanbul.
Und wie bei Tschechow ist es faszinierend, den Figuren beim Nichtstun zuzusehen: In geschliffenen, punktgenau inszenierten Dialogen viviseziert der Film ihre uneingestandenen Lebenslügen und Selbstzerfleischung. Das gemahnt zugleich an den wohl größten Seelenzergliederer der Kinogeschichte, Ingmar Bergman. Doch die protestantische Unerbittlichkeit, mit der sein schwedischer Kollege innere Widersprüche und Konflikte freilegte, fehlt Nuri Bilge Ceylan.
Zum Machtkampf Tee oder Rakı trinken
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Lobes-Hymne auf den Film “Once upon a time in Anatolia” - perfektes Roadmovie als Total-Panorama der Türkei von Nuri Bilge Ceylan
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Es war einmal in..." - Fotografien von Nuri Bilge Ceylan im Kunsthaus im KunstKulturQuartier, Nürnberg
und hier eine Rezension des Films “Jahreszeit des Nashorns” – brilliantes Polit-Psychodrama über Exil-Iraner in der Türkei von Bahman Ghobadi
und hier einen Bericht über den Film “Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters” von Orhan Eskiköy + Zeynal Doğan über kurdische Aleviten in der Türkei.
Wie ihre De-facto-Isolation in der Gesellschaft: Seit Jahrzehnten streiten Kemalisten und Religiöse um die Macht, und Kulturschaffende schauen Tee oder Rakı trinkend zu. Ihre Beteiligung beschränkt sich auf Pamphlete und Demos.
300-jähriges Rollenmodell verblasst
Nicht nur in der Türkei: Weltweit haben Intellektuelle durch die Globalisierung an Ansehen und Einfluss eingebüßt. Das Rollenmodell des homme de lettres als Stimme der Unterdrückten und Gewissen der Mächtigen erfand die Aufklärung vor 300 Jahren. Allmählich verblasst es mit dem Bedeutungsverlust Europas und Aufstieg anderer Kontinente: In asiatischen Kulturen sind Intellektuelle zuvörderst Ideengeber und Berater der Machthaber.
Das scheint westlichen Meisterdenkern bislang entgangen zu sein, liest man die einschlägigen Feuilletons. Da wird mit geläufigen Argumenten und Theorien hantiert wie eh und je – aber es fehlen umfassende Analysen, um die seit 1990 völlig veränderte Weltlage zu begreifen. Stattdessen werden die üblichen Spielchen um Posten, Prestige und kulturelle Kirchhof-Hegemonie gespielt; wie von Aydın in seiner Kleinstadt. Insofern weist sein Porträt als tragische Gestalt, das Regisseur Ceylan so brillant zeichnet, weit über die Türkei hinaus: Kappadokien ist überall.