Bei einem Film von Andreas Dresen glaubt man zu wissen, wovon er handelt: von ostdeutschen Erwachsenen mit ihren Nöten und Sorgen. Dresen zählt zu den wenigen heimischen Regisseuren, die sich mit kleinen Leuten beschäftigen. Manchmal bricht er damit ein Tabu: In „Wolke 9“ (2008) ging es um Liebe und Sex im Alter, „Halt auf freier Strecke“ (2011) porträtierte einen todkranken Krebspatienten.
Info
Als wir träumten
Regie: Andreas Dresen,
117 Min., Deutschland 2015;
mit: Merlin Rose, Julius Nitschkoff, Joel Basman, Frederic Haselon
Starker Tobak in rauem Ton
Wer allerdings die Vorlage kennt, Clemens Meyers gleichnamigen Debütroman von 2006, weiß: Das Buch bietet starken Tobak in schnörkelloser, rauer und direkter Sprache. Seine Handlung setzt kurz nach der Wiedervereinigung ein: Der 17-jährige Erzähler Dani (Merlin Rose) ist dick mit Rico (Julius Nischkoff), Mark (Joel Basman), Pitbull (Marcel Heupermann) und Paul (Frederic Haselon) befreundet. Außerdem schwärmt Dani für ein Mädchen mit dem Spitznamen Sternchen (Ruby O. Fee).
Offizieller Filmtrailer
Mehr Freiheiten als jugendverträglich
Alle sind am Leipziger Stadtrand groß geworden, zwischen Plattenbauten und schrottreifen Industrieanlagen; hier spielt sich ihr ganzes Leben ab. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die Ereignisse in Berlin sind für sie weit weg. Doch auch sie merken die Auswirkungen: Die Zeiten sind unsicher, alles ändert sich rasend schnell, und die Teenager werden weitgehend sich selbst überlassen.
Ihre Eltern sind vollauf mit der Umstellung auf das westliche System beschäftigt und lassen ihren Kindern mehr Freiheiten, als sie vertragen können. Die Jungs saufen viel, probieren neue Drogen aus, klauen wie die Raben und zertrümmern Autos. Sie helfen aber auch einer altersschwachen Oma in der Nachbarschaft beim Kohlenschleppen und legen sich mit örtlichen Neonazis an.
Neonazi-Boss kapert Techno-Club
Eigentlich sind es nette, normale Kids mit üblichen Teenie-Träumen: Rico will Profiboxer werden, Pitbull viel Geld verdienen, Dani und Paul wollen ihre Traumfrauen erobern, während Mark nur das Leben genießt. Alles scheint möglich, sogar wilde Experimente: In einer verlassenen Lagerhalle machen die fünf Freunde einen Techno-Club auf. Das „Eastside“ läuft nach Startproblemen richtig gut – bis die Realität sie brutal einholt.
In Gestalt der Unterweltgröße Kehlmann, der bereits zu DDR-Zeiten aktiv war und nun die lokalen Neonazis kommandiert. Er will den Club als Drogen-Absatzmarkt unter Kontrolle bekommen; dazu engagiert er Pitbull, der zum Profi-Dealer mutiert. Sternchen wird Kehlmanns Geliebte. Nun verfliegt der gemeinsame Traum, und die Clique zerfällt.
Lust an Drastik + Härte
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier ein Interview mit Andreas Dresen über "Als wir träumten"
und hier eine Besprechung der Doku “Herr Wichmann aus der dritten Reihe” über einen Lokalpolitiker in Brandenburg von Andreas Dresen
und hier einen Beitrag über den Film “Halt auf freier Strecke” – Porträt eines Krebskranken von Andreas Dresen
und hier einen Bericht über den Film “Kriegerin” von David Wnendt über rechtsradikale Jugend in Ostdeutschland
und hier eine Besprechung der Doku “Goldrausch – Die Geschichte der Treuhand” über das Ende der DDR-Wirtschaft von Prod. Thomas Kufus.
Eine lineare Handlung gibt es nicht; stattdessen Episoden, die wie die Vorlage in Kapitel unterteilt sind. Die Erlebnisse der Teenager inszeniert Regisseur Dresen mit viel Lust an Drastik und gebührender Härte: etwa den brachialen Boxkampf, der Rico seine Sportler-Karriere kostet.
83-Jähriger trifft Jugendjargon
Die Hauptrollen sind mit teils unbekannten Jung-Schauspielern besetzt. Sie kamen erst nach der Wende zur Welt, haben sich aber offensichtlich akribisch vorbereitet: Auch ohne sächsischen Dialekt nimmt man ihnen sofort ab, dass sie ihr Leben in Leipzig verbracht haben.
Ebenso authentisch wirken die Szenen im Techno-Club und der Jugendjargon, den alle benutzen: Da zeigt der 83-jährige Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase sein enormes Sprachgefühl für den richtigen Tonfall. All diejenigen, die diese Zeit miterlebt haben, werden sie sofort wieder erkennen.
Pump up the volume
Zumal Regisseur Dresen unübersehbar große Sympathien für seine Figuren hat: Er nimmt sie auch in ihren Fehlern und Schwächen ernst, was typisch für ihn ist. Nicht aber das hektische, manchmal geradezu aggressive Tempo, was der basslastig pumpende soundtrack mit alten und neuen Techno-tracks noch unterstreicht. Und genau so muss es sein.