Ava Duvernay

Selma

Martin Luther King (David Oyelowo) und seine Mitstreiter auf dem Marsch von Selma, Alabama, nach Montgomery. Foto: Studiocanal
(Kinostart: 19.2.) Ein 80-Kilometer-Marsch für volles Wahlrecht: Regisseurin Ava Duvernay erinnert an den größten Triumph der schwarzen US-Bürgerrechtsbewegung – und porträtiert ihren Anführer Martin Luther King jr. überraschend menschlich.

„Selma“ ist überfällig: Noch nie war Martin Luther King jr. Hauptfigur eines Kinofilms. Dabei hat der Friedensnobelpreis-Träger von 1964 nicht nur die US-Bürgerrechtsbewegung angeführt, die das Ende rechtlicher Diskriminierung von Schwarzen erkämpfte. Seine Methoden – gewaltfreie Protestmärsche, Boykotte, Blockaden und Sit-ins – wurden auch zum Vorbild für neue soziale Bewegungen weltweit in den 1970/80er Jahren.

 

Info

 

Selma

 

Regie: Ava Duvernay,

128 Min., USA 2015;

mit: David Oyelowo, Carmen Ejogo, Oprah Winfrey, Tim Roth

 

Website zum Film

 

Seinem Wirken nähert sich Regisseurin Ava Duvernay auf bemerkenswerte Weise: Sie greift eine Episode heraus, in der sich die Rassengegensätze in den USA dramatisch verdichten und zuspitzen. Anfang 1965 wollen King und seine Mitstreiter von der Kleinstadt Selma in Alabama zur Hauptstadt Montgomery marschieren, um für das Wahlrecht der Schwarzen zu demonstrieren. Das verhindern lokale Behörden mit Polizeigewalt; erst beim dritten Versuch gelingt es.

 

Alle 67 Amtsrichter aufzählen

 

Warum müssen Afroamerikaner überhaupt ihr Wahlrecht einfordern, obwohl sie doch seit Ende des Bürgerkriegs formal gleichgestellt sind? Das zeigt anfangs eine ältere Schwarze (Talkshow-Queen Oprah Winfrey): Um sich als Wählerin registrieren zu lassen, füllt sie erst ein Formular aus. Dann muss sie die Präambel der US-Verfassung auswendig vortragen, anschließend die Zahl der Amtsrichter in Alabama angeben. Als sie noch alle 67 Richter namentlich nennen soll, gibt sie auf. Solche Schikanen haben in den Südstaaten System.


Offizieller Filmtrailer


 

Prügelorgie beendet ersten Marsch

 

Dagegen wollen King (David Oyelowo) und seine Verbündeten in der „Southern Christian Leadership Conference“ (SCLC) gezielt provozieren. Sie suchen dafür den Ort Selma aus, dessen Sheriff als rabiater Rassist berüchtigt ist. Mit Blick auf die Medien: Eine Aufsehen erregende Konfrontation werde spektakuläre TV-Bilder produzieren und den öffentlichen Druck auf US-Präsident Lyndon B. Johnson erhöhen, aktiv zu werden.

 

Der ist 1965 mit Sozialgesetzgebung und Vietnamkrieg beschäftigt; er fordert bei Treffen im Weißen Haus von King mehr Geduld. Doch der Bürgerrechtler weigert sich, rassistische Gewalt gegen Schwarze länger hinzunehmen. Der erste Marsch in Selma am 7. März – ohne King – endet in einer Prügelorgie: Die Polizei greift 600 Demonstranten mit Tränengas an und verletzt viele schwer. Was vom Fernsehen live übertragen wird; die Nation ist schockiert.

 

Voting Rights Act fünf Monate später

 

Zwei Tage später führt King die Menge an, macht aber an der Brücke über den Alabama River kehrt; er fürchtet eine Falle. Doch kurz darauf erhält er Rückenwind: Johnson kündigt eine Wahlrechts-Reform an, und ein Gericht entscheidet, die Demonstration sei rechtens. Der dritte Anlauf am 21. März wird zum Triumphzug: Vier Tage lang marschieren 25.000 Teilnehmer, darunter viele Weiße, die 80 Kilometer nach Montgomery. Fünf Monate später tritt der Voting Rights Act in Kraft, der alle Einschränkungen des Wahlrechts verbietet.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films “The Black Power Mixtape 1967 – 1975” – brillante Doku über die US-Bürgerrechtsbewegung von Göran Hugo Olsson

 

und hier einen Beitrag über den Film "Nächster Halt: Fruitvale Station" - Doku-Drama über die Erschießung eines US-Schwarzen von Ryan Coogler

 

und hier einen Bericht über den Film “Der Butler”Biopic über schwarzen Diener im Weißen Haus von Lee Daniels mit Forest Whitaker

 

und hier eine Rezension des Films “Mandela – Der lange Weg zur Freiheit” – episches Biopic über Nelson Mandela von Justin Chadwick.

 

An diesem Schlüsselmoment der Bürgerrechtsbewegung ist alles kinotauglich: gefährliche Ausgangslage, hektische Verhandlungen, tragischer Rückschlag, spannende Verzögerung und glückliche Wendung. Dabei lässt Regisseurin Ava Duvernay alle Seiten zu Wort kommen: King fällt keine einsamen Entscheidungen, sondern diskutiert ausgiebig mit seinen SCLC-Kollegen – und hartnäckig mit dem Präsidenten. Selbst die rednecks in Alabama schwingen nicht nur Schlagstöcke, sondern machen auch den Mund auf.

 

„I have a dream…“-Rede ist vorbei

 

Für einen Historienfilm über eine Ikone geht es zudem recht menschlich zu. Oyelowo verkörpert King nicht als siegesgewissen leader, sondern als mit sich hadernden, an seiner Berufung zweifelnden Geistlichen, dem klar ist, was er seiner Frau (Carmen Ejogo) und ihren Kindern zumutet: Sie leiden unter Telefonterror, bei dem man ihnen mit Tod und Verderben droht. 1968 bewahrheitet sich das grausam: Ihr Mann wird in Memphis erschossen.

 

Trotzdem ist „Selma“ weder eine Chronik der US-Bürgerrechtsbewegung noch ein biopic über den Werdegang von Martin Luther King: Als der Film mit der Nobelpreis-Verleihung beginnt, liegt der „Marsch auf Washington“ 1963 mit seiner berühmten „I have a dream…“-Rede vor 250.000 Zuhörern schon hinter ihm.

 

Ein Satz für Malcolm X

 

Andere Flügel und Akteure der Bewegung werden nur gestreift: So taucht Malcolm X zwar kurz auf, doch seine Ermordung 1965 wird mit einem Satz abgetan – er war eingefleischter Gegner von King. Stattdessen konzentriert sich der Film vor allem auf dessen Sternstunde: Wenige Menschen haben Amerika so verändert wie der Pastor aus Atlanta. Auch wenn das 50 Jahre später bei Meldungen über US-Polizisten, die Schwarze töten, manchmal zweifelhaft erscheint.