Gianfranco Rosi

Das andere Rom − Sacro GRA

Roms riesiger Autobahnring GRA in der Abenddämmerung. Foto: Kairos Filmverleih
(Kinostart: 26.3.) An der Umgehungsstraße kurz vor den Mauern unserer Stadt: Regisseur Rosi erforscht die Peripherie an der Ringautobahn um Rom. Seine eindrucksvollen Porträts der dort Gestrandeten gewann als erste Doku 2013 den Goldenen Löwen.

Angeblich führen alle Wege nach Rom, aber beim Ansehen dieses Films ahnt man: Sie führen vor allem um Rom herum. Wer in den Außenbezirken an der Ringautobahn „Autostrada del Grande Raccordo Anulare – GRA“ („Große ringförmige Verbindung“) strandet, die Rom „wie die Ringe den Saturn“ umgibt, so Regisseur Gianfranco Rosi, für den gibt es wenig Ausfahrten. Hier ist die ewige Stadt so nah und doch unendlich weit weg – unerreichbar wie eine Fata Morgana.

 

Info

 

Das andere Rom -
Sacro GRA

 

Regie: Gianfranco Rosi,

93 Min., Italien 2013

 

Weitere Informationen

 

So ist in „Sacro GRA“ folgerichtig von bella Roma, wie Touristen sie lieben, rein gar nichts zu sehen. Da ist Regisseur Rosi radikal: Es geht ihm um die Peripherie, um das Randständige an sich. Der Film-Schauplatz könnte auch das ausfransende Paris, Madrid oder Wien sein. Immer wieder ist die Straße im Bild – bei Nacht im melancholischen Lichterspiel, bei Tag in fast endzeitlicher Tristesse.

 

Dreijährige Straßenrand-Expedition

 

Drei Jahre lang war der Filmemacher unterwegs im Zwischenreich am GRA-Straßenrand, um sich den Menschen zu nähern, die das Leben dorthin gespült hat. Sie offenbaren sich ihm ohne Scheu und vertrauen sich seiner Kamera an. Mit seiner unprätentiösen Dokumentation gewann Rosi 2013 in Venedig als erste Dokumentarfilmer den Goldenen Löwen.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Abgetakelte Prostituierte + Prinz Protz

 

Einige der Menschen, die am und vom „Sacro GRA“ leben, begleitet Rosi für eine Weile. Da ist der Rettungs-Sanitäter, der täglich mit Unfallopfern zwischen Leben und Tod konfrontiert ist; am Feierabend faltet er penibel Wäsche und kommuniziert via Skype mit seiner Familie. Man schaut einem Biologen zu, der einen verbissenen Kampf gegen neuartige Schädlinge führt und den (Schadens-)Stand der Dinge in Tonband-Diktaten festhält, die in philosophisch-poetische Betrachtungen münden.

 

Man begegnet zwei schon ziemlich betagten Prostituierten, die in ihrem klapprigen Auto neben der Fahrbahn auf rare Kundschaft warten: Während die eine über die Qualität von Käse sinniert, singt die andere ein herzzerreißendes Wiegenlied. Man verbringt etwas Zeit mit einem Prinz Protz, der den Familiensitz – der sich nicht mehr in 1A-Lage befindet – für Foto-Shootings vermietet. Nebenan zündet er sich in der Badewanne dicke Zigarren an, wobei er wie ein Mafioso in den Filmen von Martin Scorsese aussieht.

 

Schicksals-Ergebenheit statt Gejammer

 

Man hört einem verarmten Adligen zu, der mit seiner erwachsenen Tochter in der engen Wohnung einer trostlosen Mietskaserne lebt: Er lobt die Aussicht – die nicht zu sehen, deren Trostlosigkeit aber zu erahnen ist – und zitiert dabei den Schriftsteller Lawrence Durrell, den schwärmerischen Chronisten der Mittelmeer-Region.

 

Überhaupt wird öfter mit starkem Willen zum Optimismus die schöne Aussicht als Lichtblick beschworen. Doch niemand jammert oder klagt in „Sacro GRA“: Leise erschütternd ist vielmehr die Ergebenheit, mit der sich die Menschen in ihr jeweiliges Schicksal fügen. Obwohl ihr Traum von einem besseren Leben meist so unerreichbar bleibt wie die italienische Kapitale.

 

Die Hölle, die schon da ist

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung der Ausstellung  “Rom sehen und sterben… – über Perspektiven auf die Ewige Stadt in der Kunsthalle Erfurt

 

und hier einen Bericht über den Film “La Grande Bellezza”  – herrliche Rom-Hommage von Paolo Sorrentino, prämiert mit dem Auslands-Oscar 2014

 

und hier einen Beitrag über den Film “To Rome with Love” - Rom-Komödie von Woody Allen

 

Regisseur Rosi bezieht sich als Referenz auf Italo Calvinos literarische Collage „Die unsichtbaren Städte“: Sie ist ein fiktiver Reisebericht, aber auch die Beschreibung sozialer Zustände in einer Welt im Untergang. Darin lässt Calvino Marco Polo zum Mongolen-Herrscher Kublai Khan sagen: „Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, das noch kommen wird. Wenn es eine gibt, ist es die, die schon da ist; die Hölle, in der wir jeden Tag leben, die wir durch unser Zusammensein bilden.

 

Es gibt zwei Arten, nicht unter ihr zu leiden. Die erste fällt leicht: Die Hölle zu akzeptieren und so sehr Teil von ihr zu werden, dass man sie nicht mehr sieht. Die zweite ist riskant und verlangt ständige Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft: Zu suchen und erkennen zu lernen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Dauer und Raum zu geben.“

 

Wir sind alle Insekten

 

In „Sacro GRA“ reduziert Regisseur Rosi die Tradition des italienischen Neorealismus auf seinen harten, wahren Kern. Ohne Erläuterungen erfährt man über die Protagonisten nur, was sie vor laufender Kamera sagen. Ihre Lebensgeschichten entstehen im Kopf des Betrachters. Wir schauen diesen eindrucksvollen Figuren mit Rosis freundlichem Blick zu, mit der unerschütterlichen Hingabe und Neugier eines Insektenforschers – und erkennen: Wir sind alle Insekten.