Eine ganz normale Kleinstadt-Posse im heutigen Russland: Der Automechaniker Kolja (Alexej Serebrjakow) wohnt mit seiner zweiten Frau Lilia (Jelena Ljadowa) und seinem Sohn Roman in einem Haus mit Panorama-Blick aufs Polarmeer. Auf dieses Filet-Grundstück hat Bürgermeister Wadim Scheweljat (Roman Madjanow) ein Auge geworfen: Die Familie soll für einen Spottpreis ausziehen.
Info
Leviathan
Regie: Andrej Swjaginzew (Andrey Zvyagintsev),
140 Min., Russland 2014;
mit: Alexey Serebryakov, Elena Lyadova, Sergey Pokhodaev
Wohnhaus für Kirche abgerissen
Nachdem sich Dmitri mit Kolja über dessen Frau Lilia entzweit hat, wird er mit brutaler Gewalt aus der Stadt vertrieben. Die verzweifelte Lilia stürzt sich ins Meer; ihr ebenso verzweifelter Gatte ergibt sich dem Suff. Was ihn nicht davor bewahrt, von Wadims Schergen vor Gericht gezerrt zu werden: Die Richter verurteilen ihn wegen Mordes zu 20 Jahren Straflager. Sein Haus wird abgerissen und dort eine goldglänzende orthodoxe Kirche errichtet.
Offizieller Filmtrailer
Rechtlosigkeit, Habgier + Weihrauchfässer
Alles ganz normal, wie gesagt: Ähnliches spielt sich ständig in allen Teilen des russischen Riesenreichs ab. Wie schon unter Iwan dem Schrecklichen, Peter dem Großen, Lenin, Stalin, Breschnjew und nun Putin: Die stabilsten Konstanten im notorisch schwachen Zarenreich sind völlige Rechtlosigkeit seiner Untertanen, gepaart mit skrupelloser Habgier und Grausamkeit der Mächtigen. Dazu schwenken Popen im Prunkornat ihre Weihrauchfässer. Voltaire würde sagen: Ecrasez l’infame!
Außergewöhnlich an der Geschichte ist nur, wie Regisseur Andrej Swjaginzew (englisch: Andrey Zvyagintsev) sie verfilmt hat: als betörend schönes Endspiel am Rande des ewigen Eises. Angesiedelt auf der Halbinsel Kola am Ufer der Barentssee; dort wirkt die Welt im bleichen Licht jungfräulich wie am ersten Schöpfungstag.
Blitzschach mit dem Zuschauer spielen
Unendliche Weiten aus Fels und Geröll in allen Grautönen sind spärlich mit struppiger Vegetation bewachsen und von silbrig schimmernden Fluten umspült. Die wenigen Menschen sehen wie verirrte Eindringlinge aus, die vom Aussterben bedroht sind. Was bald geschehen dürfte, wenn sie sich weiter so aufführen.
Solche apokalyptischen Schauplätze haben im russischen Autorenkino Tradition; es pflegt das Genre des „metaphysischen Films“. Dessen unbestrittener Meister war Andrej Tarkowskij (1932-1986): Seine Epen wie „Andrej Rubljow“ (1966), „Solaris“ (1972) und „Stalker“ (1979) rechneten mit dem ganzen Sowjet-System ab. Was KPdSU-Zensoren kaum bemerkten, weil Tarkowskij fast jede Einstellung symbolisch verschlüsselte: Er spielte Blitzschach mit dem Zuschauer.
Von prämierter Gewalt zu privater Ehehölle
Unter Tarkowskijs Nachfolgern beherrscht wohl nur Andrej Swjaginzew dieses Kino-Schach genauso souverän. Was jahrelanges Training erforderte: Sein Debüt „Die Rückkehr“ (Woswraschenije) gewann zwar auf Anhieb 2003 den Goldenen Löwen in Venedig, doch der gewaltgesättigte Ausflug eines Vaters mit seinen beiden Söhnen war fürs nichtrussische Publikum kaum verständlich − ebenso wenig „Die Verbannung“ (Isgnanije) von 2007.
„Jelena“ von 2011 trug schon deutlich realistischere Züge: Ein alter Pfeffersack will seine junge Frau enterben, deren Fürsorge er sein Leben verdankt. Also vergiftet sie ihn und teilt den Nachlass mit dessen Tochter. Auch eine Konstellation, die in Russland öfter vorkommen dürfte, aber letztlich eine private Ehehölle wie bei Ibsen, Strindberg oder Ingmar Bergman.