Andrej Swjaginzew

Leviathan

Kolja (Alexeï Serebriakov, li.) spricht mit einem Priester vor dem Lebensmittelladen im Dorf. © Wild Bunch Germany
(Kinostart: 12.3.) Hiob am Polarmeer: Ein braver Bürger wird von korrupten Beamten seiner Existenz beraubt. Realistische Reportage in betörenden Bildern, die Regisseur Swjaginzew zu aktueller Polit-Theorie erweitert − ein Augenschmaus für Russlandversteher.

Statt Lichtlein Volltreffer in die Fresse

 

Mit „Leviathan“ wendet sich Swjaginzew nun dem Erzübel seiner Heimat zu: dem Staatsapparat. Er war und ist der erbarmungslose Feind aller Bürger, die er durch Abgaben und Schmiergelder ausquetscht, sie in maroden Fabriken schuften und verseuchten Städten vegetieren lässt, während ihre Söhne im Militärdienst verrohen, bevor sie im nächsten Krieg Kanonenfutter werden. Vom (neo-)feudalen Herrschaftssystem profitieren allein die Nomenklatura und ihre Günstlinge.

 

Davon erzählt der Film schnörkellos linear und unsentimental. In erlesenen Bildern schickt er Kolja durch Wechselbäder der Gefühle zwischen Erwartung und Enttäuschung, Schmerz über Schicksalsschläge und sein fassungsloses Entsetzen, wenn es noch ärger kommt. Und wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt nicht etwa von irgendwo ein Lichtlein her, sondern der nächste Volltreffer in die Fresse. Keine Hoffnung, nirgends.

 

Suff + Flüche in Russland zensiert

 

Das kommt in Russland naturgemäß nicht besonders gut an; zumindest nicht bei den Herren über die Medien. Kulturminister Wladimir Medenski, dessen Haus für ein Drittel der Produktionskosten aufkam, rügte, in „Leviathan“ würde zuviel gesoffen und geflucht. Prompt wurde der Film für die russischen Kinos zensiert.

 

Dem entgegnet Regisseur Swjaginzew spitzbübisch, ihn wundere, dass sein Werk so „ernst wie ein Dokumentarfilm“ genommen werde. Und er hat Recht: Dieser „metaphysische Film“ ist eher sein Beitrag zur politischen Theorie der Neuzeit. Der Schlüssel dazu steckt im Titel. „Leviathan“ heißt nicht nur ein Seeungeheuer im Buch Hiob des Alten Testaments, sondern auch das 1651 veröffentlichte Hauptwerk von Thomas Hobbes.

 

Vom Naturzustand zum Gewaltmonopol

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Der Fall Chodorkowski" - Dokumentation über den langjährig inhaftierten Oligarchen von Cyril Tuschi

 

und hier einen Bericht über die Dokumentation “Die Moskauer Prozesse” – Re-Inszenierung der Schauprozesse gegen russische Künstler von Milo Rau

 

und hier eine Rezension des Films “Stille Seelen – Ovsyanki” – elegisches Road Movie über Begräbnis- Riten im Norden Russlands von Alexej Fedorchenko

 

und hier einen Beitrag über den Film “How I ended this summer” – brillantes Psycho-Duell auf russischer Polarstation von Alexej Popogrebsky, prämiert mit drei Silbernen Bären bei der Berlinale 2010.

 

Es hatte eine ungeheure Wirkung: Indem Hobbes den Staat rational begründete, beendete er das Zeitalter der Religionskriege. Sein Grundgedanke war einfach: Ohne Staat befanden sich die Menschen im Naturzustand, in dem jeder ungestraft jeden umbringen konnte − dauernde Todesgefahr machte ihr Leben „einsam, armselig, scheußlich, tierisch und kurz“.

 

Um dieses Elend zu überwinden, traten die Menschen jede Macht an eine einzige Instanz ab: den Staat. Sein Gewaltmonopol beruht auf dem Versprechen, das Leben aller Bürger zu schützen. Dafür sind ihm alle Mittel gestattet: Der Herrscher kann seinen Landsleuten alles abverlangen, was ihrem Lebenserhalt dient − so lautet der Gesellschaftsvertrag.

 

Wieder menschenfressendes Ungeheuer

 

Er gilt im Grundsatz bis heute; auch wenn mit Gewaltenteilung und Volkssouveränität ein paar Schutzklauseln und Ausführungs-Bestimmungen hinzu gekommen sind. Zumindest in zivilisierten Breiten − aber nicht in Russland: Der Kreml presst aus seinen Untertanen alles heraus, ohne ihnen zumindest das Weiterleben zu garantieren.

 

Damit bricht der Staat den Gesellschaftsvertrag und verwandelt sich zurück ins menschenfressende Ungeheuer aus der Bibel; das ist die Pointe des Filmtitels. Wobei es gleichgültig bleibt, ob er seine Kriege mit Religion − wie im Zeitalter vor Hobbes − oder dem „Sammeln heiliger russischer Erde“ rechtfertigt: In jedem Fall wird im russischen Naturzustand das Leben „einsam, armselig, scheußlich, tierisch und kurz“.

 

Der nächste Emigrant

 

„Wann hören die Russen endlich mit dem Krieg auf?“, fragte der Journalist Wolfgang Büscher in seinem Reise-Bestseller „Berlin − Moskau“ schon 2003: „Mit dem Krieg gegen sich selbst.“ Zwölf Jahre später fragt sich, wie lange der 51-jährige Swjaginzew in seiner Heimat noch Filme drehen darf. Im selben Alter musste sein Vorgänger Tarkowskij 1983 nach Westeuropa emigrieren; er starb drei Jahre später in Paris an Krebs.