Stanislaw Mucha

Tristia − Eine Schwarzmeer-Odyssee

Ein Junge posiert vor einer Staue am Schwarzmeer-Strand in der Ukraine. © Copyright Stanislaw Mucha, Fotoquelle: Foto: MFA+ Filmdistribution
(Kinostart: 19.3.) Der Fluch des späten Kinostarts: 2012 bereiste Regisseur Mucha die Schwarzmeer-Region und hielt allerlei Unsinn fest, den die Leute so reden. Das kommt erst jetzt ins Kino − was damals nur geschmacklos war, wirkt nun mörderisch.

Man stelle sich vor, 1938 wäre ein deutscher Dokumentarfilmer 5000 Kilometer quer durch Osteuropa gefahren, vom Baltikum bis Balkan. Dabei hätte er aufgenommen, wer ihm zufällig vor die Linse kam: kleine Leute, die über Teuerung und Schikanen klagen; Angehörige von Minderheiten, die diskriminiert werden; Westentaschen-Demagogen, die wüste Verschwörungstheorien und Rachefantasien ausstoßen. Doch alle leben zähneknirschend noch schiedlich-friedlich nebeneinander her.

 

Info

 

Tristia − Eine Schwarzmeer-Odyssee

 

 

Regie: Stanislaw Mucha,

98 Min., Deutschland 2014/15;

 

Weitere Informationen

 

1940 sollte dieser Film dann ins Kino kommen: Inzwischen hat Hitlers Wehrmacht halb Europa überfallen und unterjocht. Die Kriegsmaschine läuft auf Hochtouren, überall wüten Tod und Verderben. Wer wollte unter diesen Umständen noch eine harmlose Osteuropa-Doku sehen? Abgesehen davon, dass Goebbels‘ Propaganda-Ministerium gewiss den Film konfisziert hätte.

 

Ende einer Küsten-Rundfahrt

 

Mutatis mutandis ist Regisseur Stanislaw Mucha in vergleichbarer Lage. Im Sommer 2012 fuhr er die 5000 Kilometer lange Küste des Schwarzen Meeres entlang und drehte, was und wer ihm gefiel. Keine leichte Reise, da die Anrainer meist einander nicht grün sind, aber mit Mut und Geduld machbar. Nun läuft seine Doku im Kino an − und ihr Gegenstand hat sich radikal verändert. Im März 2014 annektierte Russland völkerrechtswidrig die Krim; im Osten der Ukraine führt der Kreml einen schmutzigen Angriffskrieg.


Offizieller Filmtrailer OmU


 

Kein Gesprächspartner würde heute noch so reden

 

Künstlerpech: Dieser Film ist völlig veraltet. Nicht nur in den Passagen über ukrainische Landstriche − die russische Aggression hat das Klima in der gesamten Schwarzmeer-Region stark eingetrübt. Wohl keiner der Gesprächspartner, die vor der Kamera so lose daherreden, würde heute noch dieselben Worte in den Mund nehmen − oder stattdessen Gift und Galle spucken. Doch die leichtlebige endless summer-Atmosphäre, die Mucha einfangen wollte, ist auf unabsehbare Zeit dahin.

 

Bei einem Spielfilm wäre das egal; nicht bei einer Doku, die beansprucht, Realität abzubilden. Unbegreiflicherweise bringen Regisseur und Verleih sie aber unverändert ins Kino. Was vor drei Jahren noch skurril, albern oder geschmacklos gewesen wäre, wirkt nun unweigerlich obszön.

 

Mit Ovid dumme Hinterwäldler vorführen

 

Der polnische Regisseur wurde 2001 mit „Absolut Warhola“ über den slowakischen Geburtsort von Andy Warhols Eltern bekannt; seither hat er mehrere Filme über Osteuropa gedreht. Ihm geht es nie um Bestandsaufnahmen des Vorhandenen, sondern um burleskes infotainment: Er reiht Begegnungen, Anekdoten, Absonderliches und Abartiges in bunter Folge aneinander. Hauptsache, es rappelt auf der Leinwand.

 

So auch diesmal: „Tristia“ ist der Titel einer Gedichtsammlung von Ovid. In diesen Versen beklagte der antike Dichter seine Verbannung aus Rom an unwirtliche Gestade; ihn hatte es nach Tomis verschlagen, das heutige Constanţa in Rumänien. Für Mucha ist die Frage nach Ovid aber nur ein Aufhänger, um die heutigen Bewohner ein ums andere Mal vorzuführen: ihr ahnungsloses Hinterwäldlertum, das sie mit großspurigen Phrasen kaschieren.

 

Silikon-Lippen + Botox-Spritzen

 

Dabei aalt sich die Kamera meist am Strand. Ob auf der Krim, in Georgien, der Türkei oder Rumänien: Überall lichtet sie grelle Bademoden ab, sexy Wassernixen und protzende Muskelmänner. Höhepunkt dieser freak show ist ein Miss-Wettbewerb in Bulgarien: Die Lippen der silikongepolsterten Gewinnerin sind so grotesk aufgespritzt, als seien sie heftig entzündet. Oder der Regisseur sorgt für Remmidemmi, indem er einen schrägen Vogel Badegästen lautstark Botox-Spritzen für 100 Euro andrehen lässt: als sei’s ein mockumentary von Tommy Jaud und Mario Barth.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Die langen hellen Tage" von Nana Ekvtimishvili + Simon Groß über georgische Teenager im Chaos der 1990er Jahre

 

und hier einen Bericht über die Doku “Müll im Garten Eden” von Fatih Akin über einen Umwelt-Skandal an der türkischen Schwarzmeer-Küste

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Die Krim – Goldene Insel im Schwarzen Meer" mit archäologischen Funden der "Griechen – Skythen – Goten" im LVR-LandesMuseum, Bonn.

 

Wagt sich der Film ins Hinterland, wird es noch ärger: Genüsslich fängt er militaristischen Sowjet-Kitsch aus allen Blickwinkeln ein. Im Ferienlager „Orlionok“ auf der Krim werden Kinder in FDJ-Manier auf Präsident Putin eingeschworen; die Kamera sieht geduldig zu. Von der georgischen Hafenstadt Batumi wird nur das 2007 errichtete Denkmal von Medea mit dem legendären Goldenen Vlies gezeigt − dazu lässt Mucha eine Oma lautstark über „diese Hure“ schimpfen. Offenbar ärgern sie die hohen Baukosten des umstrittenen Monuments, doch das verschweigt er.

 

Internationale der Zoten

 

Wie jede Kontext-Information: Man muss wissen, dass sich Abchasien mit russischer Hilfe im verlustreichen Krieg 1993 von Georgien abspaltete, um die Totenklagen der Abchasen zu verstehen − der Film verrät es nicht. Ebenso wenig, warum bulgarische Fischer sich von Türken verleumdet fühlen, sie würden illegal Delphine fangen. Wichtiger sind Mucha eine türkische Teepflückerin, die über russische Import-Nutten spottet, oder ein rumänischer Penner, der über römische Freier und dakische Schlampen bramarbasiert, von denen die Rumänen abstammten − eine Internationale der Zoten.

 

Solcher Alltags-Rassismus und gehässige Nickeligkeiten mögen in Friedenszeiten nur schäbig sein − sobald die Waffen sprechen, können sie mörderisch werden. Derlei dennoch ohne Erläuterung mit glucksender Häme vorzuführen, grenzt an Volksverhetzung. Diese Doku gehört im Schwarzen Meer versenkt, wo es am tiefsten ist; mit Gewichten an den Füßen.