
Paris in den 1950er Jahren: Nachts ist auf den Straßen häufiger ein Mann zu beobachten, der ganze Plakatwände samt Unterlage aus schweren Zinkplatten von den Mauern abmontiert. Von der Polizei nach dem Grund seines Tuns befragt, antwortet der Mann, die Stadt habe ihn als Ingenieur beauftragt, Qualität der Materialien und Farben zu überprüfen. Da ihn stets ein Fotograf begleitet, erscheint diese Auskunft plausibel.
Info
Poesie der Großstadt - die Affichisten
05.02.2015 - 25.05.2015
täglich außer montags
10 bis 19 Uhr,
mittwochs + donnerstags
bis 22 Uhr
in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt am Main
Unfallträchtige Riffel-Brille
Zahlreiche Plakatabrisse von Hains und seinen Mitstreitern sind jetzt in der Schirn zu sehen. Dort kann man auch seine geriffelte Brille aufsetzen und sich wundern, wie er damit durch Paris laufen konnte, ohne Unfälle zu verursachen. Er machte auch Experimental-Fotos mit geriffelten Gläsern, die vor den Kameras angebracht waren. Dabei entstanden kaleidoskopartige Effekte, die Hains gemeinsam mit seinem Kollegen Jacques Villeglé in filmische Formen zu überführen versuchte.
Interview mit Kuratorin Esther Schlicht + Impressionen der Ausstellung; © Schirn
Erster Plakatabriss war collage
Für ihren ab 1950 gedrehten Experimentalfilm „Pénélope“ generierten die Beiden aus verzerrt fotografierter Schrift über mehrere Stufen abstrakte Farbmuster. Sorgfältig dokumentiert die Ausstellung jeden einzelnen Entwicklungschritt; doch „Pénélope“ blieb aufgrund unterschiedlicher künstlerischer Auffassungen trotz mehrjähriger Arbeit unvollendet.
Dagegen schufen Hains und Villegré 1949 den ersten bekannten Plakatabriss. Die Arbeit zeigt bereits die später bei „Pénélope“ verwendete Verfremdung von Schrift zu abstrakten Mustern. Streng genommen handelt es sich allerdings noch um eine collage, also eine Zusammenfügung verschiedener Bild-Elemente, die geklebt wurden.
Werke mit hohem Wiedererkennungswert
Ihre späteren Plakatabrisse folgten jedoch dem Prinzip der décollage. Dabei werden einzelne Schichten einer oft sehr voluminösen und vielschichtigen Plakatwand vom Künstler entfernt. Dieses Arbeitsweise ist den von Marchel Duchamps erfundenen ready mades nahe: Anfang des 20. Jahrhunderts erklärte er Fahrradreifen, Flaschentrockner und ein Pissoir zu Kunstwerken.
Vom ready made unterscheidet die Plakatabrisse, dass die Affichisten sie durch gezieltes Abreißen – und teilweise durch partielles Einfärben – einzelner Plakatlagen sehr gezielt nachbearbeiteten. Auf diese Weise entwickelten sie individuelle Bildsprachen mit hohem Wiedererkennungswert. Arbeiten von Hains wirken eher nüchtern, während die von Villeglé eine ausgesprochen malerische Wirkung entfalten.
Buchstaben schimmern durch
François Dufrêne aus der Gruppe der Lettristen (franz. lettre = Buchstabe) stieß später zu Hain und Villeglé. Hatte er zuvor mit Lautmalereien experimentiert, beschäftigt er sich nun mit aus dem konkreten Kontext gerissenen Buchstaben. Dufrêne verwendete dafür meist Plakat-Rückseiten, auf denen einzelne Buchstaben der Vorderseiten durchschimmerten. Seine Werke wie „Sulle stesse orme“ (1960) zeichnen sich durch ihre poetische Qualität aus.
Provokation für Informel-Maler
Die Affichisten wurden einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als die Werke von Hains, Jacques und Dufrêne 1959 auf der ersten Pariser Biennale ausgestellt wurden. Dort wurden ihre Arbeiten gemeinsam mit Bildern der abstrakten Maler des Informel präsentiert – was für letztere eine arge Provokation war.
Die Werke beider Gruppen mochten sich zwar äußerlich ähneln. Doch während die informellen Maler ihre Bilder als radikalen Ausdruck ihrer Individualität ansahen, hatten die Affichisten die revolutionäre Idee einer Kunst, die von allen gemacht werden konnte. Normale Reklameplakate bildeten sichtbar die Grundlage ihrer Kunst.
Abreißen der Haut von Rom
Zusätzlich irritierte, dass zur Hochzeit der Dominanz abstrakter Kunst die Werke der Affichisten vereinzelt figurative Elemente aufwiesen. Immer wieder sind bei ihnen inmitten zunächst rein abstrakt wirkender Farbfelder Bruchstücke von Schriftzügen und von gegenständlichen Bildern zu erkennen.
Ihre Gruppe wurde später durch den Italiener Mimmo Rotella vervollständigt. Dieser begann in den 1950er Jahren in Rom mit eigenen Plakatabrissen. Wie Dufrêne verwendete Rotella zunächst bevorzugt die Rückseiten der Plakate. An ihnen klebten oft noch Spuren des Sandsteins von Mauern der ewigen Stadt. Jene durch „Abreißen ihrer Haut“ wieder freizulegen, war Rotellas ursprünglicher Impuls.
Kleinstformate fürs Wohnzimmer
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Besprechung der Ausstellung “Pacific Standard Time” über Kunst in Kalifornien 1950 bis 1980 mit Werken der Op-Art im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier eine Rezension der Ausstellung "Ludwig goes Pop" - facettenreiche Ausstellung mit Abriss-Werken von Robert Rauschenberg im Museum Ludwig, Köln
und hier einen Beitrag über die Ausstellung “German Pop” zur westdeutschen Pop Art in der Schirn, Frankfurt am Main.
Zu den Affichisten zählte mit Wolf Vostell auch ein Deutscher. Er ging jedoch eigene Wege und war niemals offizielles Mitglied der Gruppe. Um Urheberrechts-Streit mit Hains und Kollegen zu vermeiden, bezeichnete Vostell seine Werke deshalb als dé-coll/age. Er war besonders am Prozess des Abreißens als Akt der Zerstörung interessiert.
Pioniere der street art
Bei Arbeiten wie „Anti-Process II“ fackelte er den Plakatabriss zusätzlich mit Feuer ab. 1958 führte er unter dem Titel „Das Theater ist auf der Straße“ in Paris das erste Happening überhaupt in Form eines öffentlichen Plakatabrisses durch: Vostell bat Passanten, einzelne Schichten einer großen Plakatwand abzureißen und ihre Gedanken zu sichtbar werdenden Motiven mitzuteilen.
Damit zeigt die Ausstellung, dass die heute zu Unrecht weitgehend vergessenen Affichisten wahre Pioniere der street art sind. Mit ihrer so simpel erscheinenden Technik schufen sie sehr eigene und zudem höchst vielfältige Kunstwerke von seltsamer Schönheit, die wiederzuentdecken sich lohnt.