Frankfurt am Main

Poesie der Großstadt – Die Affichisten

Wolf Vostell: Coca-Cola, 1961, Plakatabriss auf Hartfaserplatte, 210 × 310 cm; © VG Bild-Kunst Bonn, 2015. Fotoquelle: Schirn
Unter der Werbebotschaft liegt die Bedeutung: In den 1950er Jahren kultivierten Künstler den Plakatabriss als Kunstform. An die abstrakt-textuelle Schönheit ihrer Kreationen erinnert eine große Retrospektive in der Schirn Kunsthalle.

Paris in den 1950er Jahren: Nachts ist auf den Straßen häufiger ein Mann zu beobachten, der ganze Plakatwände samt Unterlage aus schweren Zinkplatten von den Mauern abmontiert. Von der Polizei nach dem Grund seines Tuns befragt, antwortet der Mann, die Stadt habe ihn als Ingenieur beauftragt, Qualität der Materialien und Farben zu überprüfen. Da ihn stets ein Fotograf begleitet, erscheint diese Auskunft plausibel.

 

Info

 

Poesie der Großstadt - die Affichisten

 

05.02.2015 - 25.05.2015

täglich außer montags

10 bis 19 Uhr,

mittwochs + donnerstags

bis 22 Uhr

in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt am Main

 

Weitere Informationen

 

Der merkwürdige Zeitgenosse trug bei Tage gerne eine geriffelte Brille, die ihm ein völlig verzerrtes Bild seiner Umgebung bot. Dieser andere Blick auf die Wirklichkeit war einer der Auslöser, warum er irgendwann das Abreißen von Plakaten zur Kunstform erhob. Raymond Hains war einer der Gründer der Künstlergruppe der Affichisten (franz.: affiche = Plakat).

 

Unfallträchtige Riffel-Brille

 

Zahlreiche Plakatabrisse von Hains und seinen Mitstreitern sind jetzt in der Schirn zu sehen. Dort kann man auch seine geriffelte Brille aufsetzen und sich wundern, wie er damit durch Paris laufen konnte, ohne Unfälle zu verursachen. Er machte auch Experimental-Fotos mit geriffelten Gläsern, die vor den Kameras angebracht waren. Dabei entstanden kaleidoskopartige Effekte, die Hains gemeinsam mit seinem Kollegen Jacques Villeglé in filmische Formen zu überführen versuchte.

Interview mit Kuratorin Esther Schlicht + Impressionen der Ausstellung; © Schirn


 

Erster Plakatabriss war collage

 

Für ihren ab 1950 gedrehten Experimentalfilm „Pénélope“ generierten die Beiden aus verzerrt fotografierter Schrift über mehrere Stufen abstrakte Farbmuster. Sorgfältig dokumentiert die Ausstellung jeden einzelnen Entwicklungschritt; doch „Pénélope“ blieb aufgrund unterschiedlicher künstlerischer Auffassungen trotz mehrjähriger Arbeit unvollendet.

 

Dagegen schufen Hains und Villegré 1949 den ersten bekannten Plakatabriss. Die Arbeit zeigt bereits die später bei „Pénélope“ verwendete Verfremdung von Schrift zu abstrakten Mustern. Streng genommen handelt es sich allerdings noch um eine collage, also eine Zusammenfügung verschiedener Bild-Elemente, die geklebt wurden.

 

Werke mit hohem Wiedererkennungswert

 

Ihre späteren Plakatabrisse folgten jedoch dem Prinzip der décollage. Dabei werden einzelne Schichten einer oft sehr voluminösen und vielschichtigen Plakatwand vom Künstler entfernt. Dieses Arbeitsweise ist den von Marchel Duchamps erfundenen ready mades nahe: Anfang des 20. Jahrhunderts erklärte er Fahrradreifen, Flaschentrockner und ein Pissoir zu Kunstwerken.

 

Vom ready made unterscheidet die Plakatabrisse, dass die Affichisten sie durch gezieltes Abreißen – und teilweise durch partielles Einfärben – einzelner Plakatlagen sehr gezielt nachbearbeiteten. Auf diese Weise entwickelten sie individuelle Bildsprachen mit hohem Wiedererkennungswert. Arbeiten von Hains wirken eher nüchtern, während die von Villeglé eine ausgesprochen malerische Wirkung entfalten.

 

Buchstaben schimmern durch

 

François Dufrêne aus der Gruppe der Lettristen (franz. lettre = Buchstabe) stieß später zu Hain und Villeglé. Hatte er zuvor mit Lautmalereien experimentiert, beschäftigt er sich nun mit aus dem konkreten Kontext gerissenen Buchstaben. Dufrêne verwendete dafür meist Plakat-Rückseiten, auf denen einzelne Buchstaben der Vorderseiten durchschimmerten. Seine Werke wie „Sulle stesse orme“ (1960) zeichnen sich durch ihre poetische Qualität aus.