Kanu Behl

Ein Junge namens Titli

Zwangsverheiratet und verschworen: Titli (Shashank Arora) und Neelu (Shivani Raghuvanshi). Foto: Rapid Eye Movies
(Kinostart: 28.5.) Anti-Bollywood at its best: Sein Kleingangster-Porträt nutzt der indische Regisseur Kanu Behl zur schonungslosen Abrechnung mit Familienbande, Wohnungsnot und Wachstumswahn. Virtuos konstruiert und inszeniert − ein brillantes Debüt.

„Helter Skelter“ steht auf dem T-Shirt, das der Teenager Titli (Shashank Arora) eingangs trägt, auf Deutsch: „drunter und drüber“. So geht es schon in der zweiten Szene zu: Sangeeta, die von ihrem Mann Vikram (Ranvir Shorey) getrennt lebt, besucht ihn samt Tochter an deren Geburtstag. Doch die Feier fällt aus, weil gleichzeitig neue Stühle geliefert werden. Ihre Farbe missfällt Vikram; er herrscht den Lieferanten an, ein Wort gibt das andere, und bald prügelt Vikram auf ihn ein.

 

Info

 

Ein Junge namens Titli

 

Regie: Kanu Behl,

124 Min., Indien 2014;

mit: Shashank Arora, Lalit Behl, Shivani Raghuvanshi

 

Weitere Informationen

 

No big deal im Kleine-Leute-Viertel von Neu-Delhi, wo Vikram mit seinen Brüdern Bawla und Titli sowie dem alten Vater (Lalit Behl) haust. Ihre Wohnung ist ein verwinkelter Verschlag aus engen Gängen und kleinen, düsteren Kammern, bestückt mit billigen Betten und Truhen; gegessen wird im Freien am einzigen Tisch. Hier gibt es keine Privatsphäre; man kann sich kaum aus dem Weg gehen, und jeder beobachtet jeden.

 

Polizei klaut vor Freilassung

 

Das Trio lebt von Auto-Diebstählen auf Bestellung, die eher Raubüberfälle sind: Es lauert einem Wagen auf und zerrt den Fahrer hinaus − falls nötig, mit brutaler Gewalt. Was die Wegelagerer nicht davor bewahrt, in die Fänge der Polizei zu geraten. Dann kauft sie ihr Oberboss wieder frei; zuvor haben die korrupten Beamten den Kleingangstern die Taschen geleert.


Offizieller Filmtrailer OmU


 

Verwandtschaft als Privathölle

 

Tikli will aus diesem Milieu ausbrechen und träumt davon, ein Parkhaus zu betreiben. Haustyrann Vikram hat andere Pläne. Er verkuppelt den Jüngsten mit Neelu (Shivani Raghuvanshi), damit sie als Lockvogel bei Raubzügen dienen kann. Das gegen seinen Willen verheiratete Mädchen sehnt sich nach ihrem Geliebten Prince und vereinbart mit Titli einen deal: Wenn er sie mit Prince zusammenbringt, erhält er ihre Mitgift als Startkapital. Darauf haben es aber auch alle Anderen abgesehen.

 

Diese Intrige konstruiert Regisseur und Drehbuch-Koautor Kanu Behl in seinem Erstlingsfilm mit bestechender Präzision: alle zehn Minuten eine überraschende Wendung. Doch sie dienen ihm nur als Anlass für eine gnadenlose Abrechnung mit Familienbande. Als Anti-Bollywood at its best: Anders als in indischen mainstream-Produktionen, wo sich alles um Großfamilien-Glück dreht, gleicht diese Verwandtschaft einer Privathölle à la Ibsen oder Strindberg. Sie wird allein durch ein Gespinst aus Lüge, Neid und Rachsucht zusammengehalten.

 

Alle krächzen + spucken häufig

 

Bedingt durch ständige Bevormundung: Noch in die kleinste Entscheidung reden alle rein, Ältere schurigeln grob die Jüngeren, Männer ihre Frauen, und im Hintergrund lauert der TV glotzende Vater wie ein böser Geist. Er zündet am Hausaltar dauernd Räucherstäbchen vor dem Bild des toten Großvaters an. Dazu plärrt stets von irgendwoher ein Kofferradio mit Bhangra-Pop.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films “Lunchbox” – indisches Metropolen-Melodram von Ritesh Batra mit Irrfan Khan

 

und hier einen Beitrag über den Film “Mitternachtskinder” – grandiose Verfilmung von Salman Rushdies Epochen-Roman durch Deepa Mehta

 

und hier einen Beitrag über den Film “Bombay Diaries – Dhobi Ghat” – brillantes Porträt indischer Großstädter von Kiran Rao mit Aamir Khan.

 

Diese Stress-Kulisse fängt Regisseur Behl visuell wie akustisch prägnant ein − inklusive lauter Krächz- und Spuckgeräusche: Hindu-Männer räuspern sich häufig ausgiebig, um ihre Kehle zu reinigen. Wer das mit ansieht, begreift rasch, warum die Lebensumstände der indischen Massen sie periodisch in Gewaltausbrüche treiben: Der Dauerfrust muss raus.

 

Traum aus nacktem Sichtbeton

 

Zumal der Gegenentwurf kaum Besserung verspricht. Titli nutzt jede Gelegenheit, um mit seinem Motorrad über die Schnellstraßen der Millionen-Metropole zu brausen; dass sie die Hauptstadt von Indien ist, ahnt man kaum. Endlose Reihen von Hochhäusern im Beton-Rohbau säumen die Straßenränder; Riesen-Baustellen wirbeln Wolken von Staub auf.

 

Diese uniforme Megapolis aus Trabantenstädten und shopping malls zu bevölkern, ist der Wunsch der aufstrebenden Mittelschichten. Man versteht, warum der Held am Ende auf seinen Traum vom Parkhaus-Betrieb verzichtet: Ringsum sieht er nur nackten Sichtbeton.

 

Urbaner Wachstumswahn

 

So wird „Ein Junge namens Titli“, der als Porträt eines jungen Kleinkriminellen beginnt, zu einer schonungslosen Radikalkritik am heutigen Indien: angefangen von verkorksten Sozialbeziehungen über die Folgen urbaner Wohnungsnot bis zum Wachstumswahn der Wirtschaftseliten. Dabei spielt Regisseur Behl virtuos mit dem Tempo: Mal rafft er in kurzen Einstellungen, mal dehnt er sie minutenlang auf Realzeit aus. Alles in einem einzigen, mitreißenden Film: ein brillantes Debüt.