Heidelberg

Kalighat – Malerei der frühen indischen Moderne

Darstellung der Göttin Kali (Detail); um 1860. Der zerstörerischen Gottheit ist der Tempel Kalighat gewidmet; zugleich ist sie Schutzherrin von Kolkatta (Kalkutta). Foto: ohe
Geburt der Moderne aus dem Geist der Massenproduktion: Für billige Pilger-Souvenirs entwickelten indische Künstler im 19. Jahrhundert einen ausdrucksstark plakativen Stil. Seltene Beispiele dieses Proto-Expressionismus zeigt nun das Völkerkundemuseum.

Diese Werke wirken vertraut: Jeder, der schon einmal Bilder von Hindu-Göttern gesehen hat, wird die Motive wieder erkennen. Dargestellt ist die Prominenz des hinduistischen Pantheons: etwa Ganesh in Elefantengestalt auf seinem Reittier, der Ratte – er ist der Freund aller Reisenden, da er Hindernisse aus dem Weg räumt.

 

Info

 

Kalighat - Malerei der frühen indischen Moderne

 

25.01.2015 - 07.06.2015

mittwochs - samstags

14 bis 18 Uhr,

sonntags ab 11 Uhr

im Völkerkundemuseum vPST, Hauptstr. 235 (Palais Weimar), Heidelberg

 

Weitere Informationen

 

Krishna tanzt mit blauer Haut auf einer Schlange oder lässt sich von seiner Geliebten Radha die Füße massieren. Daneben bezwingt die vielarmige Göttin Durga einen Dämonen. Und die zerstörerische Kali ist mit abgeschlagenen Händen und Schädeln behängt. Ihr wurde nicht nur der Kalighat-Tempel in Kolkata (früher: Kalkutta) gewidmet; sie beschützt auch die bengalische Metropole.

 

Wallfahrt zur Zehe von Sati

 

Kalkutta wurde 1690 von den Briten am Hugli-Fluss gegründet, doch die lokale Kali-Verehrung ist viel älter. Kalighat zählt zu den 52 heiligsten Wallfahrtsorten des Hinduismus, weil der Legende nach an dieser Stelle eine Zehe der Göttin Sati auf die Erde fiel. Seit jeher zog das Pilger aus ganz Indien an; 1809 entstand der heutige Tempel.

Interview mit Kurator Robert Bitsch + Impressionen der Ausstellung


 

Papier + Farbe als britischer Import

 

Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Pilgerscharen größer; nun siedelten sich ringsum Kunsthandwerker an, die sie mit Souvenirs versorgten. Darunter waren auch patuas: Diese Geschichten-Maler hatten zuvor lange, kleinteilige Rollbilder (patachitra) angefertigt. Mit ihnen zogen sie über die Dörfer, um beliebte Hindu-Epen zu erzählen, etwa das Ramayana.

 

Fortan malten sie Einzelbilder, die sie preiswert verkauften. Um die Kosten zu drücken, benutzten sie neue Materialien: Anstelle von handgeschöpftem Papier nahmen sie industriell erzeugte Blätter im Standard-Format. Statt mühsam von Hand zerriebenen Pigmente verwendeten sie vorgefertigte Wasserfarben – beides wurde aus Großbritannien eingeführt.

 

Bis zu 100 Bilder pro Maler + Tag

 

Auch die Malweise der patuas änderte sich: Sie zeichneten die Figuren mit dicken Umrissen – Götterporträts frontal, erzählende Szenen in Dreiviertelansicht – und gaben ihnen durch Konturen und leichte Schattierung ein Minimum an Plastizität. Dagegen verzichteten sie auf Perspektiv-Konstruktion und Hintergründe. So konnte ein Maler am Tag bis zu 100 Bilder pinseln.

 

Diese Massenproduktion änderte das Aussehen der Bilder radikal: Mit ihren schematisierten Formen und leuchtenden Farben wurden sie geradezu expressiv. Zudem erlaubte die rasche Fertigung, flexibel auf Wünsche der Kundschaft einzugehen. Ab etwa 1850 hielten die Maler auch weltliche Sujets fest, etwa das Alltagsleben in der boomenden Hafenstadt – häufig mit satirischem Blick.

 

Aktuelles Medium der Öffentlichkeit

 

Ein beliebte Zielscheibe ihres Spotts waren neureiche Inder, die Kleidung und Verhalten die britischen Kolonialherren nachahmten. Aber auch spektakuläre Ereignisse – etwa Skandale oder den ersten Ballonflug in Kalkutta – hielten die patuas fest. Damit wurden ihre Bilder zum aktuellen Medium der öffentlichen Meinung; ähnlich wie Karikaturen im Europa der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

 

Die Kalighat-Malerei blühte bis in die 1920er Jahre. Dann machte ihr günstigere Konkurrenz den Garaus: farbige Drucke, erst aus Europa importiert, später in Indien hergestellt. 1933 klagte der Grafiker Mukul Dey, Schüler des Nationaldichters Rabindranath Tagore, die meisten Maler seien aus Kalighat abgewandert und ihre Ateliers verwaist. Später griffen indische Künstler die Tradition wieder auf; sie lebt bis heute fort.

 

Bilder verrotten im bengalischen Klima

 

Deys eigene Sammlung landete im Victoria and Albert Museum (V&A) in London; es besitzt mit rund 640 Exemplaren die größte Kollektion weltweit. Trotz der immensen Produktion hat sich von der herkömmlichen Kalighat-Malerei nicht viel erhalten: Sie galt als Massenware, und Papier verrottet schnell im feuchtheißen Klima von Bengalen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung “The Last Harvest” mit Bildern von Indiens National-Dichter Rabindranath Tagore im Museum für Asiatische Kunst, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung “Indien entdecken!” – facettenreicher Überblick über Nachkriegs-Moderne + Gegenwartskunst in der Zitadelle Spandau, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung “Das Koloniale Augeüber frühe Porträtfotografie in Indien im Museum für Fotografie, Berlin.

Das Heidelberger Völkerkundemuseum zeigt nun 15 Blätter aus eigenem Bestand, die zwischen 1840 und 1870 entstanden. Ergänzt wird die Schau durch ein patachitra-Rollbild, das die Herkunft dieser Malschule demonstriert, und eine Kali-Skulptur aus Holz.

 

Geistlicher bei Zwangsarbeit

 

Die kundig kommentierten Exponate veranschaulichen, wie ausdrucksstark diese plakative Malweise ist. Allerdings zeigen nur zwei Arbeiten weltliche Motive, darunter einen Kriminalfall von 1873. Ein Priester hatte ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau, die von ihrem Mann enthauptet wurde. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, der Geistliche zu Zwangsarbeit. Die leistet er auf dem Blatt ab; dabei bewacht ihn ein fast doppelt so großer, britischer Aufseher.

 

Leider fehlen Beispiele für die Spätphase des Kalighat-Stils, als er – immer stärker stilisiert und auf das Wesentliche reduziert – dem Expressionismus ähnelte. Solche Exemplare sind im V&A zu sehen. Doch diese kleine Auswahl macht deutlich, wie Elemente der klassischen Moderne auch in nichtwestlichen Kulturen auftraten – und von dort auf sie zurückwirkten: Kalighat-Bilder sollen den Kubisten Fernand Léger zu seinem kurvigen Spätstil inspiriert haben.