Kiki Allgeier

Seht mich verschwinden (FEMMEfille)

Isabelle Caro betrachtet sich im Spiegel. Foto: ©Kiki Allgeier, Fotoquelle: Farbfilm Verleih
(Kinostart: 2.7.) Als Magersüchtige in der Modebranche erfolgreich: Isabelle Caro rebellierte mit Anorexie gegen ihre Mutter und wurde zum gefragten Model – bis sie 2010 starb. Regisseurin Allgeier widmet ihr ein sensibles, anrührendes Doku-Porträt.

Der in klassischer Akt-Pose drapierte Körper ist nur noch Haut und Knochen; die großen Augen im frühzeitig vergreisten Gesicht blicken resigniert. Doch die junge Frau auf dem Werbeplakat ist kein Opfer einer Hungerkatastrophe, sondern die an Magersucht erkrankte französische Schauspielerin Isabelle Caro.

 

Info

 

Seht mich verschwinden
FEMMEfille

 

Regie: Kiki Allgeier,

87 Min., Frankreich/ Deutschland 2014;

mit: Isabelle Caro, Christian Caro, Oliviero Toscani

 

Website zum Film

 

Sie stand 2007 während der Mailänder Modewoche als Nacktmodell für die “No Anorexie”-Kampagne des Fotografen Oliviero Toscani für das Modelabel “No-l-ita” vor der Kamera. Bald wurden die Plakate in Italien wegen Verletzung der Menschenwürde verboten, doch die Bilder entwickelten ihr Eigenleben in Medien und Internet.

 

Überlebenswillen in Vordergrund spielen

 

Die bisherige Kleindarstellerin Caro wurde zum gefragten Subjekt/Objekt von Features und Interviews in Sachen Mode und Magersucht. Darin warnte sie eindringlich vor den dramatischen Auswirkungen der Krankheit, spielte sich aber mit der Betonung des eigenen geballten Überlebenswillen auch gerne selbst in den Vordergrund.


Offizieller Filmtrailer OmU


 

Posthumes Video-Tagebuch für Regisseurin

 

Drei Jahre später starb Isabelle Caro im Herbst 2010 mit 28 Jahren in Paris an einer Lungenentzündung. Als ihr Vater in ihrem Nachlass ein Video-Tagebuch fand, das an die New Yorker Filmemacherin Kiki Allgeier adressiert war, leitete er es wie erwünscht an diese weiter.

 

Die Musikvideo- und Werbefilm-Regisseurin hatte mit Caro 2007 für einen nie realisierten Kurzfilm gedreht. Allgeier war die richtige Empfängerin für deren Video-Vermächtnis: Sie nahm es als Aufgabe an. Caros selfie-Filme und ihre eigenen Aufnahmen von damals machte sie zur Grundlage der Porträt-Dokumentation, die nun ins Kino kommt; erweitert um Archivmaterial, weitere Interviews und abstrakt-melancholische Schwarzweiß-Bilder.

 

Gegen Körperwachstum im Haus bleiben

 

Das ergibt ein komplex gewebtes, verstörendes Porträt einer jungen Frau, die sich gegen die Beschädigung ihres Lebens seit früher Kindheit auflehnte: Als Tochter einer depressiven Mutter, die Isabelle bis ins Erwachsenenalter in symbiotischer Abhängigkeit und im doppelten Wortsinn “klein” hielt.

 

Sie durfte laut eigener Aussage jahrelang das Haus nicht verlassen, weil sie nach Meinung ihrer Mutter an der frischen Luft zu schnell wachsen würde. Dazu passen wohl von der Mutter selbst gezeichnete, kulleräugige Kindchenschema-Figuren auf Bildern an den Wänden des Elternhauses; dementsprechend heißt der Film im Original “FEMMEfille”.

 

Namens-Änderung und Gesichts-OP

 

Isabelle folgt zunächst diesem Rollenbild mit eintätowierten Sommersprossen und Nahrungsverweigerung, versucht sich aber auch abzusetzen: Sie verlässt die Mutter und erfindet sich neu, indem sie ihren Namen ändert und ihr Gesicht operieren lässt. Auch die ertrotzte Schauspielausbildung und ihre öffentliche Rolle als Anti-Anorexie-Botschafterin gehören zu diesem Programm versuchter Selbstbehauptung.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films “Yves Saint Laurent”  – Biopic über den Modeschöpfer von Jalil Lespert

 

und hier ein Beitrag über die Ausstellung “Bettina Rheims: Bonkers – A Fortnight in London”Inszenierungen weiblicher Erotik in der Galerie Camera Work, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Feuerbachs Musen – Lagerfelds Models" - in der Hamburger Kunsthalle

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung “I killed my dinner with karate körperbetonte Tanz-Fotografie von Franziska Strauss in der Neuen Sächsischen Galerie, Chemnitz

 

Andererseits wird sie durch ihr Aussehen, ihren eigenen Exhibitionismus und die Reaktionen der Umwelt auf ihre Krankheit immer wieder auf die Rolle eines bizarren Ausstellungsstücks zurückgeworfen. Doch der Film hält sich aus solchen Zuschreibungen heraus; Regisseurin Allgeier sieht sich keiner gesellschaftpolitischen Botschaft, sondern nur ihrer Heldin verpflichtet.

 

Widersprüche einfach stehen lassen

 

Deswegen ist “Seht mich verschwinden” keine Dokumentation über Anorexie oder die Modebranche, sondern das Porträt einer Einzelperson und ihrer individuellen Geschichte. Sie zeigt aber auch, dass sich die Ursachen der Krankheit nicht auf Schlankheits-Diktat und Schönheitswahn im Allgemeinen und Zwänge der Modeindustrie im Besonderen reduzieren lassen, so kritikwürdig diese auch sein mögen.

 

Klug ist Allgeiers Entscheidung, offensichtliche Unstimmigkeiten in den Aussagen verschiedener Beteiligter nebeneinander stehen zu lassen, anstatt sie zu vertuschen oder eindeutig zu klären. So stehen Isabelle Caros Erzählungen über ihre Familie im Widerspruch zu Aussagen ihres Vaters: Er will sich an nichts Schlimmes erinnern und stellt die gemeinsame Vergangenheit als höchst harmonisch dar. Die Sicht der Mutter fehlt; sie nahm sich kurz nach Isabelles Tod das Leben.

 

Wer war leiblicher Vater?

 

Auch Isabelles Überzeugung, dass eigentlich ein romantisch umwehter Musiker-Freund der Familie ihr leiblicher Vater ist, bleibt erfreulich ungeprüft. Weniger diskrete Regisseure hätten dieses Thema samt medizinischer DNA-Analyse wohl zu einem ganzen Film aufgeblasen. Hier zählt stattdessen die Realität des Gefühls – und der offensichtliche seelische Missbrauch eines Kinds. Allgeiers posthume Würdigung ist da nur ein kleiner, aber gelungener Trost.