Sebastian Schipper

Victoria

Sonne (Frederick Lau) stellt Victoria (Laia Costa, li.) Boxer (Franz Rogowski, re.) vor. Foto Wild Bunch Germany
(Kinostart: 11.6.) Sportliche Leistung: Regisseur Schipper hat seinen 140-Minuten-Film in einer einzigen Aufnahme gedreht. Diese Vorgabe engt seinen Krimi im Berliner Nachtleben so ein, dass die Kollektiv-Improvisation seltsam künstlich anmutet.

Filmemachen als Extremsportart: Mit „Victoria“ gelingt Regisseur Sebastian Schipper eine bislang unerreichte Höchstleistung – ein ungeschnittener Spielfilm in einer einzigen Einstellung. Diesen Rekord wollten auch andere Regisseure knacken; sie kamen aber nie ohne kleine Tricks aus.

 

Info

 

Victoria

 

Regie: Sebastian Schipper,

136 Min., Deutschland 2015;

mit: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski

 

Website zum Film

 

Alfred Hitchcock montierte 1948 „Cocktail für eine Leiche“ aus mehreren Einstellungen in derselben Perspektive, weil damals die Laufzeit der Filmrollen nicht ausreichte. Alexander Sokurow ließ 2002 in „Russian Ark“ die Kamera scheinbar kontinuierlich durch das Eremitage-Museum in Sankt Petersburg gleiten, doch er kam nicht ohne Überblendungen aus.

 

Silberner Bär für Kameramann

 

Dagegen hat Kameramann Sturla Brandt Grøvlen „Victoria“ tatsächlich in einer ununterbrochenen Einstellung aufgenommen. Mit einer steadycam tanzte er 140 Minuten lang um die Schauspieler herum; jeder Zwischenfall oder Fehler hätte das Ergebnis ruiniert. Für diese Kraftanstrengung bekam er bei der Berlinale einen Silbernen Bären.

Offizieller Filmtrailer


 

Spontan-Banküberfall von Twentysomethings

 

Lorbeerkranz und Tusch – doch Sonderklasse ist „Victoria“ nur technisch, nicht inhaltlich. Schippers formaler Ehrgeiz, alles in einem Rutsch zu drehen, erlegt ihm so viele Zwänge auf, dass daraus kein überzeugender Film werden kann. Der soll nicht nur den Adrenalinkick eines Banküberfalls einfangen, sondern auch das Lebensgefühl der arbeits- und orientierungslosen twentysomethings, die aus ganz Europa nach Berlin strömen – alles in nur zweieinhalb Stunden Echtzeit.

 

Das läuft dann so ab: Als die junge Spanierin Victoria (Laia Costa) morgens um halb fünf Uhr einen Techno-Club verlässt, lernt sie zufällig Sonne (Frederick Lau) und seine drei Kumpels Boxer, Blinker und Fuß kennen. Das Quartett hat keine Kohle, will aber noch weiter um die Häuser ziehen. Zwischen Sonne und Victoria funkt es sofort; also kommt sie mit.

 

Aus dem Stehcafé ins Fluchtauto

 

Erst hängen sie auf einem Hochhaus-Dach ab, dann muss das Mädel zu ihrem Frühjob im Stehcafé. Dort erfährt Sonne, dass sie ihr Klavier-Studium am Konservatorium abgebrochen hat. Er verklickert ihr in gebrochenem Englisch, dass die Freunde nun Boxer helfen müssten; der Ex-Knacki schulde seinem früheren Mithäftling Andi (André Hennicke) einen Gefallen.

 

Der Mann entpuppt sich als Unterwelt-Größe, die von ihnen verlangt, jetzt gleich eine Bank auszurauben. Da Fuß zu betrunken ist, springt Victoria für ihn ein und steuert das Fluchtauto. Der coup scheint zu glücken, was sie erleichtert im Techno-Club begießen; plötzlich ist ihnen die Polizei auf den Fersen.

 

Unmotivierte Existenz-Entscheidungen

 

Im Handumdrehen mutiert die leichtfüßige Räuberpistole zum hardboiled action thriller: mit Verfolgungsjagd, Feuergefecht, Geiselnahme und Exitus in der Luxushotel-Suite. Diese Dramatisierung würde schon in banalen TV-Krimis überzogen wirken, ließe sich aber durch Ellipsen und Zeitsprünge kaschieren. Doch Schippers Vorgabe, dass alles in Realzeit ablaufen muss, macht das Geschehen völlig unplausibel.

 

Die Figuren fällen ständig existentielle Entscheidungen, haben aber null Zeit zum Nachdenken: Alle Ortswechsel müssen rasch und kurz ausfallen, damit kein Leerlauf entsteht. Die gesamte Handlung spielt in ein paar Straßen und Häuserblocks von Berlin-Mitte; was Titelheldin Victoria dazu motivieren soll, mal eben Freiheit und Leben zu riskieren, bleibt ein Rätsel.

 

„Außer Atem“ von Godard als Vorbild

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films “Als wir träumten” – furioses Porträt einer Jugendclique im Nachwende-Leipzig von Andreas Dresen

 

und hier einen Beitrag über den Film "Von jetzt an kein Zurück" – packendes Sozialdrama über Jugendheime in den 1960er Jahren von Christian Frosch

 

und hier einen Bericht über den Film "Scherbenpark" - Jugend-Drama in Ostberliner Prekariat von Bettina Blümner.

 

Denn es wird zwar viel gequatscht, aber oberflächlich und redundant; worüber man halt mit Zufallsbekannten so redet – improvisiert, weil es im Nachtleben ja keine Drehbuch-Dialoge gibt. Dagegen kommt die übrige Welt kaum vor; weitere Personen und Schauplätze hätten das Vorhaben verkompliziert. Mit dem paradoxen Ergebnis, dass dieser mit hyperrealistischem Anspruch gedrehte Film seltsam künstlich anmutet.

 

So einzigartig ist er auch gar nicht. „Victoria“ hat ein leicht erkennbares Vorbild: „Außer Atem“ (1960) von Jean-Luc Godard, der erste smash hit der nouvelle vague. Wie Frederick Lau und Laia Costa wurden Jean-Paul Belmondo und Jeanne Seberg zufällig ein Paar; er war ein charmanter Kleingangster, sie orientierungslos und von ihm fasziniert. Auch Godard mied Studios; er drehte seinen Genre-Plot auf Straßen und in Wohnungen.

 

Hier fehlt schlagfertiges Großmaul

 

Doch Godard hatte ein Drehbuch, das Schlaglichter auf Schlüssel-Situationen warf; sie verdichteten Alltagsleben zum fesselnden Autorenkino. Zudem war Belmondo ein umwerfend schlagfertiges Großmaul; sein Auftritt machte ihn im Nu berühmt. Derart Außergewöhnliches fehlt Schippers Film; ihn zeichnet nur die sportliche Leistung des Nonstop-Drehs aus. Und ein feministischer twist: Anders als Jeanne Seberg wird Laia Costa am Ende nicht verflucht.