„Was weiß das Kino, was wir nicht wissen?“ Die Frage wirkt seltsam: das Kino als Wesen von höherer Intelligenz? Zumal, wenn ein Filmkritiker sie stellt: Ist es nicht seine Aufgabe, Filme zu entschlüsseln und in Worte zu übersetzen, damit jeder Zuschauer/ Leser versteht, was das Kino „weiß“? Das versucht Rüdiger Suchsland in seinem Essayfilm über das Kino in der Weimarer Republik.
Info
Von Caligari zu Hitler - Das deutsche Kino im Zeitalter der Massen
Regie: Rüdiger Suchsland,
118 Min., Deutschland 2015;
mit: Volker Schlöndorff, Fatih Akin, Elisabeth Bronfen
Angstlust einer Gesellschaft
Ihr wird auch Siegfried Kracauer (1888-1966) zugerechnet, einer der bedeutendsten deutschen Kulturkritiker der Zwischenkriegszeit. Der Filmtitel zitiert eines seiner Hauptwerke, 1947 im US-Exil publiziert. Er beschrieb Merkmale deutscher Stummfilme als Symptome einer „Kollektivdisposition“, die den Aufstieg der Nazis begünstigt habe: etwa die Neigung zum Makabren und Abgründigen, oder Dämonen und Verbrecher als Hauptfiguren. Darin komme tiefe politische und kulturelle Verunsicherung zum Ausdruck − die Angstlust einer Gesellschaft vor dem Untergang.
Offizieller Filmtrailer
Expressionistische Bilanz der Räte-Revolution
Diese anspruchsvolle Argumentation will Suchsland veranschaulichen; mit Dutzenden von Filmausschnitten aus der Weimarer Zeit. Da öffnet er eine wahre Schatzkiste: Neben evergreens wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“ (1919) von Robert Wiene, „Metropolis“ (1927) von Fritz Lang oder „Der blaue Engel“ (1930) mit Marlene Dietrich enthält sie viele Meisterwerke, die nur noch Filmhistorikern geläufig sind.
Wer kennt schon „Nerven“ von 1919, Robert Reinerts expressionistische Bilanz der Räte-Republik in München? Wer erinnert sich an „Die Verrufenen“ (1925), Gerhard Lamprechts präzise Milieustudie des Berliner Proletariats? Oder an die Schnitzler-Verfilmung „Fräulein Else“ (1929) von Paul Czinner? Er fing während der Olympischen Winterspiele von St. Moritz im Luxushotel materiellen Glanz und seelisches Elend der „Goldenen Zwanziger“ ein.
Choreographie der Blicke + Schritte
Der Titelheldin aus gutem Hause wird zugemutet, sich vor dem Händler Dorsday zu entblößen, was sie in den Tod treibt. Else stellt Dorsday in einer langen Kamerafahrt nach: eine Choreographie der Blicke und Schritte, des Belauerns und Versteckens, die fesselnder nicht sein könnte.
Sie ist ungeschnitten zu sehen; ebenso Szenen aus „Menschen am Sonntag“ (1929) von Robert Siodmak als Beispiel für das Lebensgefühl der „Neuen Sachlichkeit“. Vier junge Leute machen einen Ausflug und baden im Berliner Wannsee − alles so unbeschwert wie flüchtig.
Revue-Tanz zu Massenornament-These
In solchen Momenten dürfen die Schwarzweiß-Klassiker, sparsam kommentiert, ihre Poesie entfalten; dann ist dieser Essayfilm am stärksten. Er lässt ahnen, welche Juwelen noch in den Archiven schlummern. Doch Suchsland will mehr: einen Abriss der Geschichte der Weimarer Republik und Überblick über ihre Filmproduktion in toto geben, außerdem Kracauers Filmtheorie veranschaulichen. Dazu werden sound bites der Regisseure Volker Schlöndorff, Fatih Akin und dreier Kulturwissenschaftler eingespielt. Arg viel für knapp zwei Stunden.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "The Artist" - brillantes Stummfilm-Remake von Michel Hazanavicius, 2012 mit fünf Oscars prämiert.
und hier einen Beitrag über die Ausstellung “Am Set: Paris – Babelsberg – Hollywood” über Standfotografie bei Stummfilm-Dreharbeiten in der Deutschen Kinemathek, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Walter Benjamin: Eine Reflexion in Bildern" mit zahlreichen Stummfilm-Ausschnitten in der Pinakothek der Moderne, München.
Akademische Belegstellen
In anderen Passagen wechseln Filmausschnitte im Sekundentakt, während Suchsland feuilletonistische Betrachtungen vorträgt. Stets geistvoll formuliert, aber als Off-Kommentar oftmals zu dicht: Filme bestehen nicht nur aus Schlüsselszenen. Sie darauf zu reduzieren, degradiert sie zu Belegstellen wie für die Beweisführung einer akademischen Arbeit.
„Von Caligari zu Hitler“ ist dann am schönsten, wenn Suchsland einfach seine Fundstücke ausbreitet. Diese unglaubliche Vielfalt beweist anschaulich, dass damals schon alle Genres erfunden, Erzählmuster entwickelt und Tricks ausprobiert wurden, die das Kino bis heute prägen.
Archäologie des Stummfilms
Warum die meisten ihrer Macher in Vergessenheit gerieten, listet der Abspann auf: eine lange Namensreihe von Regisseuren und Stars, die alle emigriert sind; manche vor, die meisten während der NS-Zeit. Ihre Werke wieder ans Licht zu holen, wäre ein überfälliger Akt der Wiedergutmachung: Es wird Zeit für eine Archäologie des Stummfilms − damit wir mehr über das Kino wissen als es selbst.