Karlsruhe feiert in diesem Sommer sein 300-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass schenkt das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) seinem Standort „das neue Kunstereignis im digitalen Zeitalter“. Die derart angepriesene „Globale“ besteht zwar aus einem Reigen geläufiger Veranstaltungen wie Ausstellungen, Vorträge, Konzerte und Aktionen.
Info
Globale:
Ryoji Ikeda: micro|macro
21.06.2015 - 09.08.2015
Transsolar + Tetsuo Kondo: Cloudscapes
21.06.2015 - 27.09.2015
HA Schult: Action Blue
21.06.2015 - 30.09.2015
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr, samstags + sonntags ab 11 Uhr
im ZKM, Lorenzstr. 19, Karlsruhe
Drei Ausstellungen gleichzeitig
Nach dem glamourösen Eröffnungs-Wochenende Ende Juni wartet die Globale derzeit mit drei Ausstellungen auf: einer „monumentalen Superinstallation“ von Ryoji Ikeda, einem „KlimaEngineering im Gebäude“ von Tetsuo Kondo und einer Dokumentation von HA Schult zu seiner eurasischen Autoreise „Action Blue“.
Impressionen der drei Ausstellungen
Kunst aus dem CERN-Kernforschungszentrum
Allerdings wird der Anspruch der Globale, „entscheidende künstlerische, soziale und wissenschaftliche Tendenzen des 21. Jahrhunderts sichtbar“ zu machen, lediglich im Beitrag von Ryoji Ikeda umgesetzt. Der japanische Medienkünstler hat schon viele Orte von Duisburg über Barcelona bis New York mit seinen Klang-Licht-Spektakeln bespielt, aber wohl noch nie so umfassend und abwechslungsreich wie im ZKM. Ikeda entwickelte „micro | macro“ als Gast am CERN-Kernforschungszentrum und seinem Teilchenbeschleuniger.
Zwei weitläufige Lichthöfe der einstigen Munitionsfabrik sind in drei Bereiche aufgeteilt. Im mittleren läuft auf 40 Monitoren die Werkreihe „supersymmetry“ ab; sie soll von der gleichnamigen physikalischen Theorie inspiriert sein, dass subatomare Teilchen sich ineinander umwandeln können.
Geschehen auf kleinster subatomarer Ebene
Was nicht wahrnehmbar ist: Über die Bildschirme jagen Linien, Kolonnen und Buchstaben. Es könnten Börsenkurse, Spielresultate im Wettbüro oder Abhörprotokolle der NSA sein; die Zeichen erscheinen und verschwinden zu rasch, um sie zu erfassen. Wie zufällig sie sind, wird gegenüber angedeutet: Schwärme kleiner Kugeln rollen hin und her und bilden Formen, die sich sofort wieder auflösen.
Hier ist der Besucher noch Betrachter auf Distanz. Bei „the planck universe [micro]“ nicht mehr: Das Licht wird direkt auf den Boden in der Größe eines Volleyball-Feldes projiziert. Seine Muster sollen angeblich das Geschehen auf der kleinsten subatomaren Ebene 10-35 Meter darstellen, die nicht beobachtet werden kann. Keiner wird das je prüfen – aber der Effekt ist überwältigend.
Von Radiowellen bis Datenerfassung
Das Publikum wird selbst zur Projektionsfläche. Darüber fliegen in rasender Geschwindigkeit helle Linien, Netze, Balkenstreifen, cluster und geometrische Figuren hinweg; begleitet von einer Klangcollage, die mal zart technoid piepst, mal hochfrequent dröhnt. Alles hektisch wechselnd, doch fein austariert: Das Trommelfeuer aus Sinnesreizen zerrt nicht bedrohlich an den Nerven, sondern wirkt eher aufsaugend. Die endlosen Informationsströme, die uns ständig einhüllen und durchdringen, von Radiowellen bis zur Rundum-Datenerfassung – sie wurden wohl noch nie so faszinierend veranschaulicht. Eine umwerfende Erfahrung!
Ausschließend wirkt dagegen „the planck universe [macro]“, eine Pseudo-Visualisierung der Sphäre 1026 Meter jenseits des beobachtbaren Universums. Die Zuschauer erscheinen wie Ameisen vor einer saalhohen Leinwand, auf der unzählige Lichtpunkte verstreut sind; sie könnten weit entfernte Galaxien sein. Die Punkte rotieren und verlöschen, gefolgt durch eine Kanonade von Aufnahmen der Sonnenoberfläche samt ihrer Protuberanzen – die einzigen Bilder, die identifizierbar sind, zeigen ein absolut lebensfeindliches Milieu.
So undurchsichtig wie Sauna nach dem Aufguss
Wie prägnant und wegweisend Ikedas audiovisueller Kommentar zu unserer digitalisierten Gegenwart ist, machen als Negativbeispiel die „Cloudscapes“ von Tetsuo Kondo deutlich. Der japanische Architekt war jahrelang im renommierten SANAA-Büro tätig, er hat das Projekt gemeinsam mit dem Stuttgarter Ingenieurbüro „Transsolar“ umgesetzt. Seine künstliche Wolke beansprucht ebenfalls zwei ZKM-Lichthöfe – doch zu sehen ist fast nichts.
Aerosol-Düsen, die Nebelmaschinen ähneln, sprühen Dunst in die Luft. Er steigt zu wolkenartigen Gebilden auf und zieht in den nächsten Raum ab; dort ist es so undurchsichtig schwül wie in einer Sauna nach dem Aufguss. Offenbar war es technisch schwierig, diese indoor cloud zu erzeugen, doch ihre Anschauung bleibt reizlos. Sollte das ein Vorbote für das neuerdings viel beschworene „Anthropozän“ sein – also das Erdzeitalter, in dem Menschen die Natur gezielt beeinflussen –, wird es nicht leicht werden, die Leute dafür zu begeistern.
20.000 Kilometer zwischen Hamburg und München
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Logical Emotion – Zeitgenössische Kunst aus Japan" mit Werken von 13 Künstlern im Kunstmuseum Moritzburg, Halle/ Saale
und hier eine Besprechung des Digitalkunst-Festivals "Transmediale 2015 – Capture All" im Haus der Kulturen der Welt, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "SANAA Tokio" - Werkschau des japanischen Architektur-Büros im Aedes Architekturforum Berlin.
und hier einen Bericht über die Ausstellung “Car Culture” mit einem Beitrag von HA Schult im ZKM, Karlsruhe.
Natürlich nicht nur aus Freude am Fahren: Aus vielen Flüssen am Straßenrand entnimmt der Künstler Wasserproben, mit denen er „biokinetische Bilder“ anfertigen will. Wozu? Ist doch klar: „Luft & Wasser“ sind laut Schult „zwei Themen, die der Menschheit unter den Nägeln brennen“. Allerorten: Daher steuert er nicht nur Metropolen wie Köln, Warschau und Moskau an, sondern auch das Fachwerkstädtchen Melsungen in Nordhessen – dort ist sein Hauptsponsor ansässig, der Medizinbedarfs-Konzern B. Braun AG.
Selfie-Fotos vorab produziert
Dieses Globetrottertum für einen guten Zweck darf man im Pavillon vor dem ZKM mitverfolgen. Anhand von Webcam-Aufnahmen und Selfie-Schnappschüssen des Typs „Mein Auto in Paris/ Berlin/ Peking usw.“; sie hat Schult praktischerweise schon vorab als Fotomontagen produziert. Wir wünschen dem rüstigen Oldie gute Fahrt – und hoffen, dass solche analoge Klamauk-Kunst bald von der digitalen Revolution hinweggeschwemmt wird.