Unzeitgemäßer kann eine Ausstellung kaum sein – und aktueller auch nicht. Zwischen dem Westen und Russland herrscht politisch Eiszeit. Das neue Zarenreich schottet sich auch kulturell ab und greift auf nationale Traditionen zurück, oder was es dafür hält: orthodoxes Auserwähltheits-Bewusstsein, Versatzstücke des Sozialistischen Realismus und imperialen Kitsch.
Info
"Wir müssen den Schleier von unseren Augen reißen" -
Fotografie und Zeichnung der russischen Avantgarde aus der Sammlung Sepherot Foundation
Katalog 29,90 €
Alexander Rodtschenko -
Fotografien aus der Sammlung des dkw
21.06.2015 - 20.09.2015
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr
im Kunstmuseum Dieselkraftwerk (dkw), Am Amtsteich 15, Cottbus
SchriftBild -
Russische Avantgarde
05.06.2015 - 04.10.2015
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr
donnerstags bis 20 Uhr
in der Deutschen Nationalbibliothek, Deutscher Platz 1, Leipzig
Katalog 7 €
Mysteriöse Leihgeber-Stiftung
Das führen rund 100 Fotografien und Zeichnungen vor; nach Stationen in Rüsselsheim und Bochum sind sie nun in Cottbuser Kunstmuseum Dieselkraftwerk (dkw) zu sehen. Allesamt Leihgaben der Sepherot Foundation mit Sitz in Liechtenstein, deren Kollektion nach eigenen Angaben zu den „wichtigsten Sammlungen russischer Avantgarde außerhalb Russlands“ zählt. Damit bestückt sie europaweit Wechselausstellungen, tritt aber selbst äußerst diskret auf: Als Kontakt gibt ihre Website nur eine Treuhänder-Postadresse in Vaduz an.
Mysteriös, wie ihr Name selbst: „Sephirot“ heißt auf Hebräisch „Ziffern“ und steht in der Geheimlehre Kabbala für die zehn göttlichen Emanationen des Lebensbaums. Das passt zum Absolutheits-Denken vieler russischer Avantgardisten: Sie wollten mit ihrem revolutionären Formenkanon buchstäblich eine neue Welt schaffen, in der alle Widersprüche aufgehoben seien. Eine parareligiöse Erlösungs-Utopie, die an Kühnheit der des Kommunismus nicht nachstand – weswegen sich diese Kunst hervorragend als Propaganda-Medium eignete.
Kreuz + Kreis in Zeichnung + Foto
Die Ausstellung macht das in sechs Sektionen sehr anschaulich, indem sie analog gestaltete Grafiken und Fotos direkt nebeneinander platziert. Da wird eine „Suprematistische Konstruktion“ (1922) von Ilja Tschaschnik durch ein leicht asymmetrisches Kreuz gegliedert – neben der „Stabhochsprung“-Aufnahme (1937) von Alexander Rodtschenko: im Zentrum ein ähnliches Kreuz aus Sprungstab und Querlatte. Tschaschniks kreisrundes Porzellan-Dekor von 1923 entspricht im Aufbau Rodtschenkos Foto einer Artistin im Rhönrad von 1940.
Feature auf Englisch einer Rodtschenko-Ausstellung in der Londoner Hayward Gallery; © TheHaywardSC
Universelle Formen + zeitlose Bilder
Beides war für Normalbürger unerreichbare Verheißung: Kurz nach dem Bürgerkrieg konnte sich keiner edles Essgeschirr leisten. Zugleich wird in der Gegenüberstellung deutlich, wie sehr solche Fotografie vom Kunstwillen geprägt war. Rodtschenko als ihr führender Vertreter lichtete nicht etwa Vorhandenes frontal ab, sondern wählte sorgfältig Beleuchtung, Perspektive und Ausschnitt für den gewünschten Bildaufbau. Er setzte quasi Elemente der Wirklichkeit zu geometrischen Grundformen zusammen: Konstruktivismus mit der Kamera.
Im Zeitalter der Internet-Bilderflut erscheint das banal; damals war es bahnbrechend. Zumal Rodtschenko simple Kompositions-Prinzipien wählte: Diagonalen, Winkel, Kreisbögen oder Zickzacklinien, oft asymmetrisch angeordnet und im Kontrast zu leeren Flächen. Solche Formen sind universell und kommen ständig in Ornamenten vor; derartige Muster sind jedem vertraut. Dadurch wirken diese Fotos unmittelbar verständlich und zeitlos interessant.
Hinterhof als Mondlandschaft
Nicht von ungefähr hatte Rodtschenko zunächst eine traditionelle Kunsthochschule absolviert, bevor er sich 1914 in Moskau der Avantgarde anschloss. Er wandte sich der abstrakten Malerei zu, schuf räumliche und frei bewegliche Skulpturen, arbeitete als Grafiker in Verlagen, für Theater und Film – nach heutigen Begriffen war er Multimedia-Künstler. Dabei soll er als erster in der Sowjetunion Collagen und Fotomontagen erstellt haben.
Erst ab 1924, mit 33 Jahren, konzentrierte sich Rodtschenko ganz auf die Fotografie. Welche Meilensteine ihm dabei gelangen, zeigt eine Auswahl von 30 klassischen Aufnahmen aus eigenem Bestand des Museums dkw, die es als Sonderschau zur Ergänzung beisteuert. Triviale Treppen oder Hausfassaden fesseln durch schräge Blickwinkel und stürzende Linien; ein verschneiter Hinterhof wird in der Draufsicht zur bizarren Mondlandschaft.
Vorboten des Übermorgen, das nie kommt
Selbst eine Allerwelts-Szene von zwei Frauen, die an Portikus-Säulen vorbeigehen, erfährt durch schiefe Kamera-Optik ungeahnte Dynamik. Das war ein Schlüsselwort der russischen Avantgarde: Alles sollte dynamisch und vorwärts treibend aussehen, hin zu einer lichten Zukunft. Dafür lichteten die Sowjet-Fotografen zahllose Symbole der Industrialisierung ab: Strommasten, Staudämme, Förderbänder, Hochöfen und Maschinen aller Art – als Vorboten einer Wohlstands- und Überflussgesellschaft, die sich so nie einstellen sollte.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung “Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde” über Kubofuturismus + Suprematismus in der Bundeskunsthalle, Bonn
und hier eine Besprechung der Ausstellung “Schwestern der Revolution” – über die Künstlerinnen der russischen Avantgarde im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen
und hier einen Bericht über den Vortrag von Kunsthistorikerin Jekaterina Degot zur revolutionären Staatskunst in der Sowjetunion auf der dOCUMENTA (13)
und hier einen Beitrag über die Ausstellung “Baumeister der Revolution” – zur sowjetischen Avantgarde-Kunst und Architektur 1915 – 1935 im Martin-Gropius-Bau, Berlin.
Aufstand der Misanthropen
Man reibt sich die Augen: Mit Typographie und Layout wurde wilder herumprobiert als in jeder anderen Kunstsparte. Buchstaben purzeln durcheinander, fliegen durch den Raum oder ballen sich zu Wortknäueln. Buchtitel lauteten – fast unlesbar – „Tango mit Kühen“, „Lernt Magerei“ oder „Aufstand der Misanthropen“; welcher Verlag würde heute derlei herausbringen? Damals war es in gut sortierten Petersburger Buchhandlungen erhältlich.
Und wer würde noch Drucktexte in der Marginalspalte mit riesigen, fetten Frage- und Ausrufezeichen kommentieren? Wohl niemand – doch das Verfahren ist allgegenwärtig geworden: die Entfesselung des Visuellen durch die Entkopplung von Buchstabe und Bedeutung. Die russische Avantgarde entdeckte den optischen Eigenwert von Schriftzeichen, reizte ihn bis zum Anschlag aus – und begründete ein Prinzip, von dem Reklame bis zur Gegenwart lebt.
Hauptsache Kaufimpuls
Deshalb wirken diese Blätter trotz des kyrillischen Alphabets vertraut: Alles ist erlaubt, sofern es nur auffällt. Und beim Betrachter die erhoffte Reaktion auslöst – im Kommunismus parteikonformes Verhalten, im Kapitalismus den Kaufimpuls. Mit solchen Tricks arbeiten auch die Designer der allerneuesten elektronischen gadgets; die Zurichtung des Benutzers auf technische Anforderungen der Ware erlebt beim smartphone einen nie gekannten Höhepunkt. So bringt die russische Avantgarde tatsächlich den neuen Menschen hervor; nur anders, als sie sich erträumte.