Berlin + London

The Botticelli Renaissance

Sandro Botticelli: Tondo Raczynski (Detail), 1477, SMB, Gemäldegalerie / Jörg P. Anders
Botticelli auf den Kopf gestellt: Die Gemäldegalerie zeigt Renaissance-Meisterwerke, 19. Jahrhundert-Wiederentdeckungen und moderne Zitate – verrät aber nicht, was original und was nachgeahmt ist. Eine Zwei-Klassen-Ausstellung für Eingeweihte und Schaulustige.

Kahle Wände ohne Informationen

 

Das erfährt man nur aus dem Audioguide oder Katalog, aber nicht in der Ausstellung; bis auf Bildtitel und drei kurze Wandtexte bleiben die kahlen Säle bar jeder Information. Obwohl kleine Reproduktionen der Vorbilder sofort anschaulich machen würden, wie sich die Arbeiten von Nachfolgern auf den Renaissance-Meister beziehen.

 

So kann der Betrachter den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Etwa bei Bill Violas Video-Installation „The Path“, dem zweiten Teil von „Going Forth By Day“ (2002), die einen ganzen Raum füllt: Dass die Baumstämme, zwischen denen Komparsen durchlaufen, denjenigen in Botticellis „Geschichte des Nastagio degli Onesti“ (1483) ähneln, erkennen wohl nur Spezialisten.

 

Milch spritzende Dame umhängen

 

Absurd wird diese Kontext-Verweigerung bei Cindy Shermans Umsetzung (1990) von Botticellis „Allegorischem Porträt einer Dame“ (1485), die aus ihrer Brust Milch verspritzt: Das Original findet sich drei Säle weiter, man müsste es nur daneben hängen.

SMB-Werbespot "Heiliger Sebastian"; © SMB


 

Stattdessen muten die Kuratoren den Besuchern ein fortlaufendes Bilderrätsel zu: Was hat dieses oder jenes Exponat mit Botticelli zu tun? Besonders kryptisch wird es im zweiten Teil über seine Wiederentdeckung ab etwa 1850: Neben Franzosen wie Edgar Degas und Gustave Moreau sind vorwiegend italienische und englische Künstler vertreten.

 

Monströser Katafalk für Königssärge

 

Dante Gabriel Rossetti, Edward Burne-Jones und Aubrey Beardsley schufen Gemälde und Illustrationen, deren linear-flächige Gestaltung und florales Dekor offenkundig von Botticelli inspiriert waren. Warum begeisterten sich die so genannten Präraffaeliten für ihn? Darüber verliert die Schau kein Wort.

 

Da hilft nur das Studium der Vorbilder weiter. Mit ihrer Inszenierung setzen die SMB neue Maßstäbe: Die zentrale Halle der Gemäldegalerie füllt zur Hälfte ein monströser Einbau, den gepresster Schiefer bedeckt. Seine mattschwarze Farbe lässt an einen Katafalk für Königssärge denken. An den Längsseiten hängen rund 50 Gemälde von Botticelli selbst, aus seiner Werkstatt und von Nachahmern – eng aufgereiht und unkommentiert. Fantasie- und liebloser kann man Meisterwerke kaum präsentieren.

SMB-Werbespot "Simonetta Vespucci"; © SMB


 

Keine Ablenkung durch Informationen

 

Zwei Bilder – eine Federzeichnung und das Gemälde „Mystische Geburt“ (1500) – genießen Vorzugsbehandlung: Ihnen ist der riesige Innenraum in Rot vorbehalten, der ansonsten leer bleibt. Der Grund: Diese beiden Arbeiten hat Botticelli als einzige signiert, sie sind also zweifelsfrei von seiner Hand. Bei allen anderen, auch den berühmten Gemälden in SMB-Besitz, ist das letztlich ungewiss. Zu ihnen referiert der Katalog zwar den Forschungsstand, enthält sich aber jedes Urteils.

 

Entweder erwarten die Kuratoren, dass alle Betrachter mit geschultem Auge Originale von Varianten und Fälschungen unterscheiden können. Oder sie hoffen, was wahrscheinlicher sein dürfte, dass den Besuchern das egal ist: Hauptsache, man bietet ihnen ein farbenfrohes Defilee von Madonnen und Porträtköpfen, die irgendwie die Aura altmeisterlicher Malkunst verströmen. Wozu das Publikum mit Informationen ablenken, die es ignoriert oder rasch wieder vergisst?

 

MoMA drapiert 1940 Venus wie im Theater

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Florenz!"  mit Werken von Sandro Botticelli in der Bundeskunsthalle, Bonn

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Modern Icons" mit einer Botticelli-Paraphrase des zeitgenössischen Künstlers Erró im Ludwig Forum, Aachen

 

und hier einen kultiversum-Bericht über die Ausstellung "Botticell: Bildnis, Mythos, Andacht" im Städel Museum, Frankfurt am Main.

 

Damit etablieren die SMB eine Innovation im Kulturbetrieb: die Zwei-Klassen-Ausstellung. Wer wissen will, was er sieht und welche Bedeutung es hat, muss sie am Gängelband des Audioguide ablaufen oder zuvor den Katalog durchlesen. Der gemeine Besucher darf nur erwarten, dass ihm ein Potpourri angeblich erlesener Bilder vorgeführt wird. Seine Schaulust sollen Daten und Fakten bloß nicht stören.

 

Dabei finden sich, tief im Katalog versteckt, durchaus Antworten auf die Leitfrage der Schau. 1815 gelangten „Die Geburt der Venus“ und „Primavera“ in die Uffizien, wurden dort aber erst ab 1844 bzw. 1853 ausgestellt – und rasch zu Publikumslieblingen. 1940 erhob eine Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) Botticellis Venus zum Inbegriff zeitloser Schönheit. Fast 300.000 Besucher bewunderten dort die Göttin, in einem dunklen Raum zwischen Vorhängen drapiert, als ultimative Kostbarkeit: A star was born.

 

Mehr Bilder in London

 

Mal sehen, welche dramatischen special effects sich die Macher für die zweite Station der Ausstellung einfallen lassen. Ab März 2016 wird sie unter dem Titel „Botticelli Reimagined“ im Londoner Victoria & Albert Museum gezeigt – angereichert um etliche Gemälde aus britischen Sammlungen, die beim Auftakt in Berlin noch fehlen.