„Wahre Geschichten“ kommen derzeit geradezu inflationär ins Kino; kaum eine bemerkenswerte Person oder Begebenheit bleibt davor bewahrt, verfilmt zu werden. Selbst wenn ihr Renommée eher fragwürdig ist: etwa der Ruf der Millionärin Florence F. Jenkins, die Anfang des 20. Jahrhunderts in New York lebte. Die Amateur-Sopranistin glänzte unter anderem mit einer legendär dissonanten Interpretation der Königin der Nacht aus Mozarts „Zauberflöte“.
Info
Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne
Regie: Xavier Giannoli,
129 Min., Frankreich/ Tschechien 2015;
mit: Catherine Frot, André Marcon, Michel Fau
Park-Villa mit Pfauen-Ausstattung
Madame Marguerite (Catherine Frot) lebt irgendwo in der Île–de–France in einer Landvilla, die sie mit viel Liebe zum Tinnef ausgeschmückt hat. Das Haus verlässt sie nur, um ihre Pfauen im ähnlich ausgestatten Park zu besuchen. Stattdessen strömt tout Paris in ihren Salon, wo bei einer Wohltätigkeits-Veranstaltung nicht nur professionelle Interpreten, sondern auch Madame selbst Kostproben ihrer Sangeskünste geben.
Offizieller Filmtrailer
Misstöne als bizarre camp show goutieren
Ihr leidenschaftlicher Auftritt steht in kolossalem Kontrast zu ihrem musikalischen Unvermögen. Sie trifft kaum einen Ton; bei Koloraturen rutscht ihre Stimme derart ab, dass es eher einem Röcheln ähnelt. Dennoch applaudieren die Anwesenden dem grässlichen Schauspiel enthusiastisch – sei es aus hinterhältiger Missgunst oder Heuchelei.
Mit vorgetäuschten Autopannen versucht Ehemann Georges (André Marcon), das peinliche Schauspiel möglichst zu verpassen – obwohl er vom Vermögen seiner Gattin abhängig ist. Außerdem lungern in Madames Residenz noch ein paar junge bohémiens herum, die das schräge Spektakel fasziniert und bewundernd als bizarre camp show goutieren. Als ein junger Journalist eine schwärmerische Musik-Kritik über Madames Gesangseinlage veröffentlicht, kommt Bewegung in die Szene, die fast so erstarrt wie am Hof des Sonnenkönigs wirkt.
Festnahme bei anarchistischer Anti-Kriegs-séance
Denn Marguerite steigt das publizierte Lob so zu Kopf, dass sie endlich einen lange gehegten Plan umsetzen will: ein großes öffentliches Rezital in der Pariser Oper. Georges überredet sie wenigstens, vorher Gesangsstunden bei einem abgehalfterten Tenor (Michel Fau) zu nehmen. Der Auftritt selbst lässt sich kaum verhindern – am Ende einer Reihe von Turbulenzen. Sie stürzen Marguerite nicht nur aus ihrer Villen-Höhle ins Pariser Nachtleben, sondern führen auch zu ihrer Festnahme während einer anarchistischen Anti-Kriegs-séance.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
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und hier einen Bericht über den Film “Inside Llewyn Davis” – tragikomisches Porträt eines erfolglosen Folkmusikers von Joel + Ethan Coen
und hier einen Beitrag über den Film "Saiten des Lebens" – Beziehungs-Studie über ein Streichquartett mit Philip Seymour Hoffman
sowie hier einen Bericht über den Dokumentarfilm “Die Thomaner” zum 800-jährigen Bestehen des Leipziger Knaben-Chors von Paul Smaczny+ Günter Atteln.
Kostüm-Parade aus dem Opern-Fundus
Auch die übrigen Akteure agieren sehr überzeugend: allen voran André Marcon als Ehemann und Michel Fau als eitler und feister Sänger, der mit seiner Schülerin alberne Kommunikations-Spielchen veranstaltet. Denis Mpunga ist als Diener Madelbos Marguerites engster Vertrauter und Verbündeter bei ihrer zweiten Leidenschaft: Er fotografiert sie in den prunkvollen Pailletten- und Feder-Kostümen aus ihrem privaten Fundus von Opern-Requisiten.
So glänzt der Film mit großartigen Schauspielern und opulenter Ausstattung – allerdings kaum mit originellen Inszenierungs-Ideen. Trotz aller Exaltiertheit ist „Madame Marguerite“ eigentlich eine klassische Tragikomödie über Wahrheit und Verstellung, Einsamkeit und Glück, Leidenschaft und Kunst – und in seiner obsessiven Betrachtung feiner sozialer Unterschiede auch sehr französisch.
Nettigkeiten ohne esprit
Damit ist für jeden Geschmack etwas dabei; am Ende siegt – wenig überraschend – die Liebe über die Kunst. Schade nur, dass eine Prise des gewissen Etwas fehlt, um neben vielen artigen Nettigkeiten auch die Funken des esprit sprühen zu lassen.