
Nur ein paar kurze Meldungen im Vermischten: Mehr war in der deutschen Presse nicht zu lesen, als im Januar 2010 in der süditalienischen Kleinstadt Rosarno junge Immigranten aus Afrika gegen einheimische Rassisten aufbegehrten und dabei Autos in Flammen aufgingen. Doch der US-Filmemacher Jonas Carpignano, Sohn eines Italieners und einer Afro-Amerikanerin, wollte es genauer wissen.
Info
Mediterranea
Regie: Jonas Carpignano,
110 Min., Italien/ Frankreich 2015;
mit: Koudous Seihon, Alassane Sy, Francesco Papasergio
Hauptrolle für Protest-Anführer
Zur Vorbereitung wohnte der Regisseur mit den illegalen Einwanderern in ihren Slum-Hütten. Dabei freundete er sich mit dem charismatischen Aktivisten Koudous Seihon an, der zu den Anführern der Proteste von 2010 zählte. Er wurde zum Hauptdarsteller dieses Films und spielt sich in der Rolle des Ayiva fast selbst: Einen junger Vater aus Burkina Faso will in Europa arbeiten, um seiner kleinen Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen.
Offizieller Filmtrailer OmU
Als Pflücker auf Orangen-Plantagen
Sein Freund und Gegenspieler ist der jüngere Abas (Alassane Sy): ein impulsiver Träumer mit großen bis überzogenen Erwartungen an sein Zielland. Am Anfang des Films befinden sich beide auf überfüllten Lastwagen. Sie fahren auf einer beschwerlichen und gefährlichen Route durch die Sahara zur libyschen Küste; dort soll sie ein überladenes Schlauchboot über das Mittelmeer nach Italien bringen.
Die Stationen solcher Reisen sind mittlerweile aus den Medien bekannt; ebenso Fährnisse wie Banditenüberfälle und ein Schiffbruch, den beide nur knapp überleben. Auch bei der Ankunft im gelobten Land wird ihre Hoffnung auf ein friedliches Leben enttäuscht. Die Arbeitsbedingungen auf den Orangen-Plantagen, auf denen beide als Pflücker malochen, sind ebenso unmenschlich wie ihre Unterkünfte.
Ameisen-Perspektive der Handkamera
Zudem machen junge kalabrische Rassisten mit Hetze und Übergriffen den Afrikanern das Leben schwer. Ayiva ist bereit, solche Erniedrigungen in Erwartung einer besseren Zukunft einzustecken; er knüpft sogar freundschaftliche Bande mit dem dubiosen Boss der Plantage. Dagegen verkümmert Abas, der in den Tag hinein lebt, zusehends unter den elenden Verhältnissen.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Atlantic." über eine Windsurfer-Flucht aus Afrika nach Europa von Jan-Willem van Ewijk
und hier einen Bericht über den Film "Heute bin ich Samba" - beschwingte Tragikomödie über illegale Einwanderer in Frankreich von Olivier Nakache und Eric Toledano mit Omar Sy + Charlotte Gainsbourg
und hier einen Beitrag über den Film “Die Farbe des Ozeans” – intensives Flüchtlings-Drama auf Gran Canaria von Maggie Peren.
Schiffbruch als Bild- und Klang-collage
Der Schiffbruch mit vielen ertrinkenden Opfern und einer Rettung im letzten Augenblick wird so zur fast experimentellen Bild- und Klang-collage. Nur selten darf sich der Zuschauer bei einer Totale erholen; wenn etwa die Emigranten wie eine Wüsten-Karawane als verstreute, bunte Punkte eine Sanddüne hinaufstapfen.
Regisseur Carpignano hat vor Ort in Kalabrien gedreht. Bis auf Alassane Sy in der Rolle des Abas haben alle (Laien-)Darsteller die Unruhen von Rosarno selbst miterlebt; sie kennen das Dasein genau, von dem hier erzählt wird. Auch einige wunderbare Nebenfiguren überzeugen, wie die aufsässige Tochter des Plantagenbesitzers oder ein halbwüchsiger Hehler von höchstens zwölf Jahren, der mit Kippe und kaltschnäuzigen Sprüchen einen Möchtegern-Kleinmafioso perfekt verkörpert.
Risiko-Recherche im Unbekannten
Natürlich passt „Mediterranea“ in die derzeitige Nachrichtenlage. Bei aller Aktualität ist der Film aber keiner der üblichen, routiniert nach Schema F gestrickten Problem-Filme, sondern eine ästhetisch risikofreudige und höchst persönliche Recherche auf nahezu unbekanntem Terrain. Was mancher an ausgefeilter Dramaturgie vermissen mag, wird durch die sinnliche Präsenz der Akteure und Szenen mehr als ausgeglichen.