
Jugend kann sehr grausam sein; insbesondere im Internat. Der ukrainische Regisseur Myroslav Slaboshpytzkiy hat einen denkbar radikalen Film über das Heranwachsen gedreht: „The Tribe“ heimste bereits zahlreiche Preise ein – obwohl er 130 Minuten lang ganz ohne Worte auskommt.
Info
The Tribe
Regie: Myroslav Slaboshpytskiy,
132 Min., Ukraine/ Niederlande 2014;
mit: Hryhoriy Fesenko, Yana Novikova, Roza Babiy
Verbotene Liebe im Internat
Sergey fügt sich ein, geht mit auf Raubzüge oder passt wie ein Zuhälter auf die Mädchen beim Anschaffen auf. So steigt er schnell in der Hierarchie auf, bis er sich in seine Mitschülerin Anna (Yana Novikova) verliebt. Er versucht, sie zu beschützen; damit verstößt er gegen alle “Stammes“-Regeln im Internat und wird sofort aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Auf sich allein gestellt, greift er zum einzigen Mittel, das die Bandenführer verstehen: rohe Gewalt.
Offizieller Filmtrailer
In scheinbar stiller + autarker Welt
Dieser plot ist an sich beinahe konventionell; die Meisten dürften als Kind oder teenager die Erfahrung gemacht haben, aus einer Gruppe ausgestoßen zu werden, und jeder kennt das Bestreben um Zugehörigkeit und Anerkennung. Doch Regisseur Slaboshpytzkiy setzt dieses Sujet in seinem Debütfilm mit beeindruckender Radikalität um; dabei greift er auf eigene Erfahrungen aus seiner Schulzeit zurück.
Zur außergewöhnlichen Seherfahrung wird der Film durch seine Wortlosigkeit: Die Protagonisten kommunizieren ausschließlich in Gebärdensprache ohne Untertitel. So wird der Zuschauer hineingeworfen in eine scheinbar stille, autarke Welt, in der Menschen nur wild gestikulieren und grimassieren. Hörbar sind nur Außengeräusche wie Straßenlärm oder Schritte.
Wie ein Ethnologe genau hinsehen
Was gesagt, also mit Gebärden ausgedrückt wird, muss man sich erschließen – es ist, als wäre man auf fremdem Territorium, in dem man weder die Landessprache noch Sitten und Gebräuche kennt. Das zwingt dazu, wie ein Ethnologe genau hinzusehen, um aus Mimik und Gestik wenigstens ansatzweise die Gesprächsinhalte zu erahnen.
Da jeder Dialog fehlt, der ablenken könnte, wird das Auge umso mehr geschärft für unsentimental eingefangene Ausschnitte einer anderen Realität, die sonst eher im Dokumentarfilm zu sehen ist. Die unbarmherzige Wirklichkeit, in der sich die Jugendlichen bewegen, beschleunigt ihr Erwachsenwerden enorm.
Dreh in Kiew während Maidan-Unruhen
Hintergrund
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Regisseur Slaboshpytzkiy hat seine jugendlichen Laiendarsteller meist von der Straße weg engagiert; alle stammen aus schwierigen Verhältnissen. Sie kennen die gezeigten Konflikte und Gewalt aus eigener Erfahrung, was ihrem Spiel sagenhafte Authentizität gibt; eine Art fiebriger Getriebenheit und Kraft. Sie geben sich mit Vehemenz preis und entblößen sich im direkten wie übertragenen Sinn.
Ein echter Stummfilm
Das verfolgt man mit einer Mischung aus staunender Faszination, Mitgefühl und Unbehagen, denn ihr Schicksal scheint von vorneherein entschieden. Im Internat ist nicht nur Sergey völlig sich selbst überlassen. Alle Erzieher suchen rücksichtslos nur ihren eigenen Vorteil, auch auf Kosten ihrer Zöglinge.
Unter den Jugendlichen regiert das Faustrecht, unter den Erwachsenen schranken- und skrupelloser Egoismus; beides trifft scheinbar Wehrlose am härtesten. Das macht „The Tribe“ zu einem ebenso ungeschönten wie brutalen Film, komplett in winterlichem Graublau mit statischer Kamera in schmucklosen Räumen gedreht – obendrein zum echten Stummfilm. Erst am Ende führt aus totaler Hoffnungs- und Ausweglosigkeit eine Tür nach Draußen.