Wolfsburg

Dark Mirror – Lateinamerikanische Kunst seit 1968

Marcos López: Criollitas,1996/2006, aus der Serie „Pop Latino“. Foto: Peter Schälchli; Fotoquelle: Kunstmuseum Wolfsburg
Starker Tobak von einem ignorierten Erdteil: Südamerikas Kulturen sind hierzulande kaum präsent. Das ändert das Kunstmuseum mit einer fulminanten Überblicks-Schau zur Gegenwartskunst – ein Feuerwerk von drastisch sinnlichen und vielschichtigen Werken.

Die dunkle neue Welt: Außer mit Meldungen über Drogenkriege in Mexiko und Kolumbien oder Proteste gegen Korruption in Brasilien taucht Lateinamerika in deutschen Medien kaum auf – und im Kulturbetrieb noch seltener. Das war in den 1970/80er Jahren anders.

 

Info

 

Dark Mirror – Lateinamerikanische Kunst seit 1968

 

27.09.2015 - 31.01.2016

täglich außer montags

11 bis 18 Uhr

im Kunstmuseum, Hollerplatz 1, Wolfsburg

 

Katalog 32 €

 

Weitere Informationen

 

Die Linke malte sich mit schwärmerischer Revolutions-Folklore Südamerika zum Sehnsuchtskontinent aus. Das bürgerliche Publikum verschlang seine Literatur: Romane des „magischen Realismus“ von Gabriel Garcia Marquez und Mario Vargas Llosa, scharfzüngige Essays von Octavio Paz, surreale Vexierspiele von Jorge Luis Borges – illustriert von farbenprächtigen Bildern der Mexikanerin Frida Kahlo, die Feministinnen zur Galionsfigur weiblicher Kreativität und Selbstbestimmung stilisierten.

 

Indigen-europäisches Amalgam

 

Vorbei: Mauerfall und Globalisierung lenkten das Interesse auf den Nahen bis Fernen Osten. Obwohl die Verbindung zu Südamerika traditionell viel enger ist: Millionen Brasilianer, Argentinier und Chilenen haben deutsche Vorfahren. Die dortigen Eliten verfolgen immer noch aufmerksam, was in Europa geschieht. Zudem ist Lateinamerika der einzige Erdteil, dessen Kulturen indigene und europäische Einflüsse wirklich amalgamiert haben.

Feature über die Ausstellung; © Kunstmuseum Wolfsburg


 

Daros-Stiftung schließt Rio-Dependance

 

Insofern macht diese Ausstellung einen blinden Fleck in der hiesigen Weltwahrnehmung bewusst: Sie dürfte die erste Überblicks-Schau über lateinamerikanische Kunst in der Bundesrepublik seit gut einem Jahrzehnt sein. Auch wenn sie in toto aus der Schweiz importiert wurde: Alle 175 Arbeiten von 41 Künstlern seit Ende der 1960er Jahre gehören der in Zürich ansässigen „Daros Latinamerica Foundation“.

 

Die Stiftung wurde im Jahr 2000 von Ruth Schmidheiny gegründet, der Gattin eines Zement-Magnaten. Sie hat seither mehr als 1000 Werke zusammengetragen – eine der größten Sammlungen zeitgenössischer Kunst aus Lateinamerika weltweit. Mitte des Jahres machte sie Negativ-Schlagzeilen mit der Ankündigung, ihr erst Anfang 2013 für rund 30 Millionen Dollar eröffnetes Kulturzentrum „Casa Daros“ in Rio de Janeiro schon Ende 2015 wieder zu schließen. Über die Gründe schweigt sich die Stiftung aus.

 

Blumen-Wagen mit Einschussloch

 

In Wolfsburg trifft die Daros-Kollektion auf ein ähnlich gut ausgestattetes Haus; es wird von der Kunststiftung Volkswagen getragen. Wie eine Referenz an den Geldgeber erscheint, dass am Anfang ein Pkw steht: allerdings ein „Ford Victoria“, Baujahr 1955. Die Mexikanerin Betsabée Romero hat seine Karosserie komplett mit Blumen bemalt und das Wageninnere mit Rosenblüten gefüllt; in der Windschutzscheibe prangt ein Einschussloch.

 

Dieser oldtimer stand jahrelang im US-mexikanischen Grenzland: als memento für die Auto-, Kitsch- und Gewalt-Fixierung beider Nachbarvölker. Ein Klagelied für die Opfer der Raserei liefert Romero gleich mit: Die Noten hat sie in Autoreifen eingeschnitzt und abgerollt. Passender könnte der Auftakt kaum sein: mit Aplomb auf der Grenze zwischen verschiedenen Sphären herumkurvend.

 

Das Unbedingte suchen, Dinge finden

 

Hinter der Eingangstür grinst ein Schädel mit Clownsnase von Vik Muniz. Dahinter breitet der Brasilianer eine Weltkarte aus Computer-Schrott aus: Europa ist unter PC-Ventilatoren, Südamerika unter Tastaturen begraben. Muniz porträtiert auch Berühmtheiten, etwa Sigmund Freud mit Schokoladensoße und Che Guevara mit Bohnensuppe: Eat Art der sarkastisch-ikonoklastischen Art.

 

So drastisch trumpfen nur wenige Exponate auf. Im Gegenteil: Die Kuratoren haben vor allem Werke ausgewählt, deren sinnliche Anschauung vielschichtig angelegt ist – selbst wenn sie vermeintlich eindeutig erscheint. Wie das Novalis-Zitat: „Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge“: Diesen Satz formt der Chilene Gonzalo Díaz mit Leuchtdraht, den er rhythmisch aufglühen lässt – so brennt sich die Komplexität des Aphorismus ein.

 

Papageien streiten um Krieg + Frieden

 

Oder eine Schwarzweiß-Fotoserie von Mario Cravo Neto: Großaufnahmen mit subtilen Grauwerten wirken zunächst wie klassische Kompositions-Studien. Erst Details der Konfrontation von Mensch und Tier machen deutlich, dass sie auf die Ideenwelt von candomblé verweisen, der brasilianischen voodoo-Variante.

 

Ohnehin sind Tiere sehr präsent: Im Video von Donna Conlon aus Panama werden Ameisen zur Vorbildern für Kooperation. Der Kolumbianer Juan Manuel Echavarría lässt zwei Papageien archetypisch um Krieg und Frieden streiten. Seine Landsmännin María Fernanda Cardoso spießt Dutzende Frösche im Kreis auf und hängt sie an die Wand – was wohl der WWF davon hält? Und der Argentinier Luis Fernando Benedit entwirft Experimental-Behausungen für Hühner, Schnecken und Kakerlaken.

 

Präkolumbische Keramik mit Disney-Motiven

 

Seine so aufwändigen wie undurchsichtigen Pläne stehen für die Tradition der Konzeptkunst in Lateinamerika. Sie bildet einen Schwerpunkt der Schau, um zu zeigen, wie viele Künstler sich auf deren Begründer Marcel Duchamp (1887-1968) beziehen. Das gerät etwas blutarm: Der Erfinder des readymade war zwar einflussreich, ist aber dem breiten Publikum kaum geläufig. So bleiben Anspielungen wie Álvaro Barrios‘ Kunstbetriebs-comics oder das Schachspiel mit Mini-readymades von Charles Juhász-Alvarado etwas gesucht wirkende insider jokes.

 

Unmittelbar zugänglich ist dagegen die Auseinandersetzung mit dem großen Nachbarn im Norden. Als Antonio Caro den Landesnamen „Colombia“ 1976 mit den Lettern des Coca-Cola-Schriftzugs schrieb, fand er die denkbar kürzeste Formel für Coca-Colonialismus. Ähnlich plakativ und einprägsam sind Gefäße von Nadín Ospina im Stil präkolumbischer Keramik – dekoriert mit den Konterfeis von Mickey Mouse, Goofy und Donald Duck.

 

Cindy Sherman meets Vélazquez

 

Raffinierter erscheint die „Traumfabrik 3“, die René Francisco 2010 in Pop Art-Manier malte. Fahnen von Kuba und den USA werden zu einem unentwirrbaren rot-weiß-blauen Stoffmeer vernäht: culture clash meets melting pot. Natürlich von emsigen Näherinnen im sweat shop; Frauenbildern und -rollen ist ein eigener Ausstellungs-Abschnitt gewidmet.

 

Die Argentinierin Nicola Constantino arrangiert sich selbst in altmeisterlich anmutenden Foto-tableaus: Cindy Sherman meets Vélazquez. Dagegen haut Teresa Serrano aus Mexiko voll drauf. Nach dem Vorbild eines Kinderspiels, bei dem eine Pappmaché-Figur geprügelt wird, drischt ein Mann im Video auf eine Mädchen-Puppe ein, bis sie völlig zerfetzt ist.

 

Fußball voller Silikon-Brustwarzen

 

Gewalt geht auch subtiler: Luis Camnitzer aus Uruguay befestigt drei Messerklingen an der Wand – und graviert ihnen die Namen der drei Schiffe Santa Maria, Niña und Pinta ein, mit denen Kolumbus Amerika „entdeckte“. Garniert mit je zwei silbernen Weihnachtskugeln, erinnern sie ans männliche Gemächt. Machismo-Erotik kitzelt Nicola Constantino auch aus der schönsten Nebensache der Welt: Sie besetzt einen Fußball mit lauter Silikon-Brustwarzen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung “Hélio Oiticica: Das große Labyrinth” – erste deutsche Retrospektive für den "Andy Warhol Brasiliens" im Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/Main

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung “Avante Brasil: Junge Kunst aus Brasilien” im KIT – Kunst im Tunnel, Düsseldorf

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung Realidad y Utopia mit zeitgenössischerKunst aus Argentinien in der Akademie der Künste, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung “Das Verlangen nach Form – O desejo da Forma” mit Neoconcretismo + zeitgenössischer Kunst aus Brasilien in der Akademie der Künste, Berlin

 

Noch galliger fallen Kommentare zu Macht und Repression aus. Liliana Vélez Jaramillo aus Kolumbien projiziert ein Video nach unten, in dem sie als Hausmädchen den Fußboden ableckt – der Besucher muss auf ihr Bild treten, um weiterzugehen. Ihre Landsleute Fernando Pareja und Leidy Chavez konstruieren einen Automaten, in dem Wachsfiguren unter Stroboskop-Licht im Kreis auf ein Loch zuzulaufen und sich in die Tiefe zu stürzen scheinen; ein perpetuum mobile des Verderbens.

 

Weiße knallen Indios ab

 

Der Mexikaner Iván Edeza hat echte Amateur-Filme aus den 1970er Jahren aufgetrieben, in denen Weiße auf einer Treibjagd Indios abknallen – Elendsporno pur. Dagegen wirkt die Dreikanal-Videoinstallation von Miguel Angel Ríos aus Argentinien, der Kreisel bis zur Erschöpfung aufeinander los lässt, geradezu besinnlich-meditativ.

 

Viele dieser Arbeiten sind starker Tobak: Als würden schreiende soziale Gegensätze und brutale Unterdrückung die Künstler Lateinamerikas zu besonders eindrücklichen Bildfindungen inspirieren. Damit bieten sie nicht nur eine Frischzellenkur für den globalen Kunstbetrieb, der sich häufig in formalen Haarspaltereien und sterilen Spielchen erschöpft.

 

Jenseits der breaking news

 

Sie liefern auch ein prägnantes Vokabular für unsere immer ungemütlicher und gewalttätiger werdende Gegenwart. Diese Künstler führen vor, wie man Brüche, Schocks und Konflikte verarbeitet. Eine visuelle tour de force, die sich unbedingt lohnt: Man muss nur den Blick auf die südliche Hemisphäre richten – auch wenn die breaking news der Massenmedien dafür blind sind.