Peter Greenaway

Eisenstein in Guanajuato

Ein Schädel als Spielzeug am "Tag der Toten": Sergej Eisenstein (Elmer Bäck). Foto: Edition Salzgeber
(Kinostart: 12.11.) Entjungferung eines Kino-Revolutionärs: Das berühmte Scheitern des Sowjet-Regisseurs Sergej Eisenstein in Mexiko deutet Peter Greenaway als sein Coming Out – im sinnlich-burlesken Bilderrausch voller Anspielungen auf Meta-Ebenen.

Im Dezember 1930 reiste der gefeierte sowjetische Regisseur Sergej Eisenstein nach Mexiko, um im Auftrag des US-Schriftstellers Upton Sinclair und seiner Frau einen Film zu drehen. Er sollte „Que viva México!“ heißen und das Leben in diesem Land darstellen, das seit der Revolution von 1910 die europäische Linke so faszinierte und ihre Künstler so inspirierte wie ein paar Dekaden später das revolutionäre Kuba.

 

Info

 

Eisenstein in Guanajuato

 

Regie: Peter Greenaway,

105 Min., Mexiko/ Niederlande 2015;

mit: Elmer Bäck, Luis Alberti, Maya Zapata

 

Website zum Film

 

Es wurde dasjenige Projekt Eisensteins, das am schmerzlichsten unvollendet blieb. Diese Episode im Leben des Meisterregisseurs nutzt Peter Greenaway, der zu seinen besten Zeiten in den 1980er Jahren auch als Meisterregisseur gefeiert worden war, um sich mit großer Geste auf der Leinwand zurückzumelden.

 

Installationen + Opern statt Filme

 

In deutschen Kinos spielen seine Filme seit Mitte der 1990er Jahre keine Rolle mehr. Er selbst schien sich bei Video- und Rauminstallationen oder Opern-Inszenierungen wohler zu fühlen als in Filmproduzenten-Büros. Doch als bekannt wurde, dass Greenaways Remix von Eisenstein im Berlinale-Wettbewerb 2015 gezeigt werden würde, weckte das gewisse freudige Erwartungen. Sie wurden nicht enttäuscht.

Offizieller Filmtrailer


 

Großes narzisstisches Wunderkind

 

Nicht zuletzt kommen alle auf ihre Kosten, die Greenaways Stilmittel ohnehin hassen. Bereits zum Auftakt arbeitet er bei Eisensteins triumphalem Einzug in Guanajuato mit split screens und montiert Archivaufnahmen gegen Darsteller in einem oldtimer voller Koffer, der – wir sind in Mexiko – in orange-goldenes Licht getaucht ist.

 

Schon diese erste Sequenz ist eine Demonstration in Eisensteinscher Montage-Technik und Greenawayschem Bildersturm. Es folgt die schauspielerische tour de force eines jungen Finnen, den zuvor kaum jemand kannte: Elmer Bäck spielt Eisenstein als großes narzisstisches Wunderkind, dem die Welt zu Füßen liegt und das seinen Spaß daran hat.

 

Ohne Frustration kein Meisterwerk

 

Die Kamera kann sich an diesem Mann, dessen Platz in der Filmgeschichte doch immer hinter der Kamera war, gar nicht satt sehen. Selbst das Hotelzimmer mit seiner symmetrischen larger than life Art-déco-Ausstattung und einem Baldachin-Bett in der Mitte ist vor allem eine für ihn hergerichtete Bühne. Im Nu stehen wir mit dem nackten Genie unter einer postmodernen steampunk-Dusche und hören zu, wie er mit seinem Gemächt spricht.

 

„Ich brauche deine Frustration“, sagt der gute Freudianer Eisenstein; es gilt ja, ein weiteres Meisterwerk zu schaffen. Während der Film ihm durch die kommenden Wochen folgt, dreht Eisenstein mit seinem Kameramann Eduard Tisse und Assistenten Grigori Alexandrow an verschiedenen Orten, kehrt aber immer wieder nach Guanajuato zurück.

 

Film über Leben in Mexiko selbst

 

Regisseur Greenaway geht es nicht darum, den technischen Prozess oder die Mühen der Dreharbeiten abzubilden. All das findet, wie in Shakespeares Dramen, außerhalb des Bühnenraums statt. Greenaway benutzt die Stadt, ihre Architektur und surrealen Risse, um darüber zu spekulieren, was in jenen Tagen mit Eisenstein geschah: wie der Film in seinem Kopf zusammenwuchs – und in der Realität bereits auseinanderfiel.

 

Seine Auftraggeber hatten wohl an einen technisch raffinierten Reisefilm gedacht. Doch Eisenstein, der sich mit einer ihm völlig fremden Kultur konfrontiert sah, hatte größere Zusammenhänge im Sinn. So wie „Der Mann mit der Kamera“ (1929) von Dsiga Wertow für Sowjetrussland sollte sein Film mit den ihm eigenen Mitteln das Leben in Mexiko selbst erzählen.

"Que viva México!" in der Schnittfassung von Grigori Alexandrow, 1979 (85 min., mit Texten von Eisenstein auf Russisch und englischen Untertiteln)


 

Abbruch mit 50 Stunden belichtetem Material

 

Es gab Pläne für verschiedene dramatische und sogar metaphysische Episoden sowie ihre geografische und historische Anordnung – solche Ordnungs-Systeme interessieren Greenaway seit jeher. Nur konnte Eisenstein seine Vision nicht verwirklichen, da es ihm nie vergönnt war, den Film zu schneiden.

 

Er selbst wurde Mitte 1931 in die UdSSR zurückbeordert; da hatte er bereits 30 bis 50 Stunden Zelluloid belichtet. Dieses Material nahmen die Auftraggeber, die seine ausufernden Budget-Forderungen aus der Fassung brachten, mit in die USA. Den letzten Streit mit ihnen filmt Greenaway mit einer Karussellfahrt um das Bett, das Eisenstein, als die erbosten Produzenten endlich zu ihm vorgedrungen sind, gar nicht mehr verlassen will.

 

In Russland ist Homosexualität Tabu

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier ein Interview mit Peter Greenaway über "Eisenstein in Guanajuato"

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Gehorsam" als "Eine Installation in 15 Räumen von Saskia Boddeke & Peter Greenaway" im Jüdischen Museum, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellungen "Russische Avantgarde-Kunst" + "Rodtschenko – Fotografien" im Museum dkw, Cottbus, sowie "SchriftBild – Russische Avantgarde" im Deutschen Buch- und Schriftmuseum, Leipzig.

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Schwestern der Revolution" über "Künstlerinnen der Russischen Avantgarde" im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen am Rhein

 

Außer Tempelruinen, Tequila und Totenfest passiert dem Regisseur auf dieser Reise nämlich noch etwas: Nach heftigem Besäufnis und unbeholfenem Flirt landet er mit seinem mexikanischen Führer Palomino Cañedo (Luis Alberti) im Bett. Mit dem Fokus auf Eisensteins Homosexualität hat sich Greenaway offenbar eine Menge neuer Feinde geschaffen: Im homophoben Russland ist das Thema – wie auch beim Komponisten Piotr Iljitsch Tschaikowski oder den Tänzern Vaslav Nijinsky und Rudolf Nurejew – ein Tabu.

 

Eisenstein selbst hat sein Coming Out nie öffentlich bestätigt, doch in Tagebuch-Aufzeichnungen angedeutet; zudem hat er viel Material hinterlassen, das Greenaway interpretiert. Er feiert die Affäre als derbe, aber todschicke Burleske: mit einem Bilderrausch aus supersmarten Kamera-Bewegungen, irren Dekors, CGI-Symmetrie-Effekten und hinreißenden Darstellern, die sich für den Regisseur buchstäblich nackig machen. Wann waren letztmals außerhalb des XXX-Genres so viele Schwänze in Großaufnahme auf der Leinwand zu sehen?

 

Dialektik der Defloration

 

So folgt aus Eisensteins erfolgreicher Defloration eine schöne Dialektik: Während der Film, mit dem er schwanger geht, praktisch abgetrieben wird, kommt das „nicht zu Ende geborene“ Genie, wie Filmtheoretiker Georg Seeßlen sagen würde, durch seine schwule Affäre ein wenig mehr zu sich selbst. Und amüsiert sich darüber, dass er, der stets große Zusammenhänge im Kopf hat, mit seiner eigenen Körperlichkeit völlig überfordert ist.

 

Auch für das Publikum war es lange nicht mehr so leicht, sich in einem Greenaway-Film zu amüsieren. Er verknüpft eine sinnliche Liebesgeschichte mit einer voyeuristisch-bildungsbürgerlichen Making-of-Fantasie und lässt dabei seiner ganzen Lust an Referenzen und Meta-Ebenen freien Lauf. Zwar hat eine russische Kritikerin zurecht bemerkt, dass es nicht nötig sei, über Eisensteins Sexualität Bescheid zu wissen, um sein Werk zu würdigen. Aber „Eisenstein in Guanajuato“ ist ja kein Film von Eisenstein, sondern von Peter Greenaway.