
Mal eben den Kolonialismus im Kulturbetrieb aufarbeiten: Das Kunstmuseum aan zee (Mu.ZEE) im belgischen Seebad Oostende hat sich viel vorgenommen. Es will die gesamte „Präsentation von Kunst aus Afrika im 20. Jahrhundert“ in eine Ausstellung packen. Dazu hat Belgien durchaus die nötigen Ressourcen: Das Land kolonisierte den Kongo, die kulturell reichste und vielfältigste Region Schwarzafrikas.
Info
Europäische Geister – die Präsentation von Kunst aus Afrika im 20. Jahrhundert
04.07.2015 - 03.01.2016
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr
im Kunstmuseum aan zee, Mu.ZEE, Romestraat 11, Oostende/ Belgien
Bevölkerungs-Halbierung in 40 Jahren
Allerdings will das Mu.Zee mehr, als nur die Geschichte dieses Kunstraubs nachzeichnen. 1885 erwirkte der belgische König Leopold II. auf der Berliner Kongo-Konferenz, dass ihm dieses riesige Territorium als Privatbesitz überlassen wurde. Der Monarch errichtete im „Kongo-Freistaat“ ein Regime brutaler Ausbeutung, das internationale Proteste hervorrief. 1908 übernahm der belgische Staat die Kolonie, was die Lage der Einwohner kaum verbesserte: Zwischen 1880 und 1920 halbierte sich ihre Zahl von 20 auf 10 Millionen.
Impressionen der Ausstellung
Ohne Afrika-Kunst kein Kubismus + Expressionismus
Derweil fanden in europäischen Hauptstädten Kolonial-Ausstellungen statt, in denen auch „Eingeborenen-Kunst“ gezeigt wurde. Sie begeisterte ab 1900 die europäische Avantgarde; ohne ihren Einfluss wären etwa Kubismus und Expressionismus nicht denkbar. Zugleich wurde „primitive Kunst“ lebhaft gehandelt; 1915 analysierte Carl Einstein in „Die Negerplastik“ ihre andersartige Ästhetik.
1922 zeigte das Museum Folkwang in Essen erstmals afrikanische Kunst gleichrangig mit europäischen Werken. In den USA und Frankreich der 1930/40er Jahre forderten farbige Intellektuelle Gleichberechtigung; Léopold Sédar Senghor und Aimé Césaire wurden zu Wortführern der Négritude-Bewegung. Die Entkolonialisierung ab Mitte der 1950er Jahre förderte Afrikas kulturelle Modernisierung: Verlage, Museen und Galerien wurden gegründet.
Abhängigkeit + Ressentiments dauern an
Als der schwarze Kontinent in den 1970/80er Jahren in Stagnation und Gewalt versank, verlagerte sich die Debatte über Neo- und Postkolonialismus an westliche Hochschulen – bis heute. Etliche Ausstellungen, angefangen mit „Le Magiciens de la terre“ 1989 in Paris, haben versucht, afrikanische Kunst zu rehabilitieren und ihre Einzigartigkeit zu würdigen – mit gemischter Resonanz. Derlei betrachten schwarze Theoretiker wie Edouard Glissant oder Achille Mbembe als Ausdruck fortdauernder, wenn auch unbewusster, Diskriminierung – wobei unklar bleibt, wie Alternativen aussehen sollten.
Soweit ein kurzer Abriss – natürlich ist in Wirklichkeit alles viel komplizierter. Die Geschichte der Rezeption traditioneller afrikanischer Kunst im Westen ist untrennbar mit der fatalen Verstrickung beider Welten verbunden. Der Kolonialismus hatte sehr unterschiedliche Ausprägungen. Afrika bleibt trotz 53 souveräner Staaten vielfach von fremden Mächten abhängig, neuerdings auch von China: Anlass für wechselseitige Ressentiments aller Art.
Mit Bleiwüste + Schwarzweiß-Fotos kapitulieren
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung “Afrika mit eigenen Augen” über Gegner der kolonialen Sicht auf Afrika im Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden
und hier einen Beitrag über die Ausstellung “Solch ungeahnte Tiefen” - beeindruckende Werkschau der Kenianerin Wangechi Mutu in der Kunsthalle Baden-Baden
und hier eine Besprechung der Ausstellung “Kader Attia: Reparatur – 5 Akte” mit Werken zur Kolonialgeschichte Afrikas im KW Institute for Contemporary Art, Berlin
und hier einen Beitrag über die grandiose Ausstellung “Dogon – Weltkulturerbe aus Afrika” in der Bundeskunsthalle, Bonn.
Als Blickfang-Oasen stehen dazwischen Jugendstil-Vitrinen aus dem Museum in Tervuren. Darin werden 45 Leihgaben präsentiert: eine Auswahl afrikanischer Kunstwerke, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ausstellungen prominent platziert und fotografiert wurden. Als würde der Vergleich der Originale mit alten Schwarzweiß-Aufnahmen heutigen Betrachtern etwas sagen.
Wie auf Weltausstellungen um 1900
Damit das Ganze nicht zu gestrig ausfällt, sind noch Werke moderner und zeitgenössischer Künstler eingestreut. Angefangen mit einer Collage der Dadaistin Hannah Höch von 1926 über Interieur-Fotos von Candida Höfer bis zu aktuellen Arbeiten der Nigerianerin Otobong Nkanga und der Kenianerin Wangechi Mutu; ihre surreal-sinnlichen Foto-Collagen persiflieren die heutige Hochglanz-Fixierung. Irgendwie hat alles mit schwarzer Kultur zu tun – aber was sagen diese Beiträge über die Rezeption afrikanischer Kunst seit 1900 aus?
Man fühlt sich wie auf einer der Weltausstellungen, die damals en vogue waren: Die Fülle des Daseins wird über dem Besucher ausgeschüttet. Alles ist vorhanden, aber in wilder Mischung; wie das Beutegut von Entdeckern und Eroberern. Aus diesem Berg von Material müsste ein kundiger Kurator nun eine plausibel strukturierte Ausstellung machen. Diese Aufgabe kann das Mu.ZEE nicht stemmen – vielleicht gelingt es 2017 dem großen Bruder in Tervuren.