Marie-Castille Mention-Schaar

Die Schüler der Madame Anne

Die Schüler der Madame Anne. Foto: © Neue Visionen Filmverleih
(Kinostart: 5.11.) Von der NS-Vergangenheit fürs Leben lernen: Eine französische Lehrerin führt vor, wie sie Schulverweigerer motiviert. Das authentische Erziehungs-Drama von Regisseurin Mention-Schaar macht es sich streckenweise arg einfach.

Schule als Mikrokosmos: Filme, die soziale Brennpunkte im Klassenzimmer verdichten, sind ein gängiges Genre. In Frankreich, wo sich in der multikulturellen banlieue von Großstädten reichlich Konfliktpotenzial anstaut, hat dieses Format quasi Tradition: etwa in „Die Schüler des Monsieur Mathieu“ (2004) von Christophe Barratier oder „Die Klasse“ von Laurent Cantet, dem Gewinner der Goldenen Palme in Cannes 2008.

 

Info

 

Die Schüler der Madame Anne

 

Regie: Marie-Castille Mention-Schaar,

105 Min., Frankreich 2014;

mit: Ariane Ascaride, Ahmed Dramé, Noémie Merlant

 

Website zum Film

 

Nun kommt der französische Film „Die Schüler der Madame Anne“ von Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar in deutsche Kinos. Auch hier finden sich gängige Themen und Konstellationen, die sich durch unterschiedliche ethnische und religiöse Zugehörigkeiten in der Schülerschaft ergeben.

 

Autobiographisches Drehbuch

 

Dabei erfindet die Regisseurin den Lehr- und Drehplan dieses Genres nicht neu, doch der fesselnd und authentisch erscheinende Film muss einen Vergleich mit den beiden genannten Vorgängern nicht scheuen. Was auch am Drehbuch von Ahmed Dramé liegt: Darin erzählt der heute 22-Jährige autobiografisch von eigenen Erfahrungen.

Offizieller Filmtrailer


 

Keine Lust, Trübsal zu blasen

 

Er war selbst Schüler einer engagierten Geschichts-Lehrerin, die tatsächlich Madame Anglés heißt und am Léon-Blum-Gymnasium im Pariser Vorort Créteil unterrichtet. Das Skript lässt seine starke persönliche Beziehung zu den Geschehnissen spüren und macht die Erfahrungen von Dramé und seinen Mitschülern anschaulich nachvollziehbar.

 

Die elfte Klasse des Gymnasiums ist als unmotivierter Haufen berüchtigt, ihr perspektivloser Alltag von Frust, Aggression und Rassismus geprägt. Das ändert sich, als die forsche Madame Anne Gueguen (Ariane Ascaride) die Klasse übernimmt; sie “ hat keine Lust, Trübsal zu blasen“. Ihre Liebe zu ihrem Beruf und ihr respektvoller Umgang mit den Schülern wirken ansteckend.

 

Schüler-Wettbewerb über Kinder als Nazi-Opfer

 

Als sie sich wegen eines Todesfalls einen Monat beurlauben lässt, rutscht die Klasse wieder ab; bei ihrer Rückkehr liegen die Nerven blank. Das Lehrer-Kollegium hat die elfte Klasse aufgegeben; dort werde keiner das Abitur schaffen. Doch die Pädagogin meldet stattdessen ihre Schützlinge beim „Nationalen Wettbewerb zu Widerstand und Deportation“ an; dabei soll die Klasse zusammenwachsen und sich neue Chancen eröffnen.

 

Nach anfänglichem Widerstand macht die gesamte Klasse mit; alle recherchieren gemeinsam Material über „Kinder und Jugendliche in Konzentrationslagern der Nazis“. Fortan ist klar, wie der Film weiterlaufen wird, doch man langweilt sich keine Minute: Alle Rollen sind hervorragend besetzt, die Dialoge stimmig und die Szenen dicht und intensiv.

 

KZ-Insasse als Zeitzeuge im Klassenzimmer

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Der Staat gegen Fritz Bauer" - Biopic über Staatsanwalt, der Adolf Eichmann aufspürte, von Lars Kraume mit Burkhart Klaußner

 

und hier einen Beitrag über den Film "Bande de Filles – Girlhood" - Gruppen-Porträt farbiger Teenager in der Pariser Banlieue von Céline Sciamma

 

und hier einen Bericht über den Film "Monsieur Lazhar" - franko-kanadisches Schul-Drama über Lehrerin-Selbstmord von Philippe Falardeau.

 

Am eindrucksvollsten ist der Auftritt von Léon Zyguel; er kommt als NS-Zeitzeuge ins Klassenzimmer und spricht über seine Deportation als 15-Jähriger und Jugend im Konzentrationslager. Diese Vermischung von Dokumentarischem und Fiktion ist zugleich Stärke und Schwäche des Filmes.

 

Damit macht es sich Regisseurin Mention-Schaar leicht: Ein echter Zeitzeuge der NS-Gräuel, der von seinen traumatischen Erfahrungen erzählt, ist über jede Kritik erhaben. Wie emotionalisierende Bilder, wenn die Klasse ein holocaust-Museum besucht, Fotos und Briefe von Anne Frank und ihrer Familie sichtet und Recherchen über Nazi-Opfer anstellt. All das nimmt viel Raum ein und lässt über weite Strecken den Spiel- zum Dokumentarfilm mutieren.

 

Gar überdeutliche Läuterung

 

Ein Wechselbad der Eindrücke: In Momenten, in denen die Klasse begreift, dass sie Zeitgeschichte nutzen kann, um ihr eigenes Leben zu gestalten, ist der Film großartig berührend. Wenn dagegen grauenhafte Bilder der NS-Vergangenheit mit melodramatischer Musik unterlegt werden, fühlt man sich mitunter manipuliert: Diese Läuterung gerät gar überdeutlich.

 

Doch in Wirklichkeit hat offenbar genau dieses Verfahren funktioniert: Ahmed Dramé und seine Mitschüler fingen durch den Einsatz ihrer Lehrerin und die Empathie mit Opfern des Nationalsozialismus an, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Inzwischen ist Dramé Schauspieler geworden und hat bereits in einer TV-Serie und einem weiteren Kinofilm mitgewirkt.