Die Straßenkämpfe im Sommer 1969 um den schwullesbischen Club „Stonewall Inn“ in der New Yorker „Christopher Street“ sind der Gründungsmythos der internationalen gay liberation-Bewegung; sie werden mit den Paraden am „Christopher Street Day“ (CSD) weltweit gefeiert. Das Aufbegehren gegen Unterdrückung und Gewalt bietet sich als Filmstoff an: Schon 1995 machte der Brite Nigel Finch darüber ein interessantes Doku-Drama mit eingebauten Zeitzeugen-interviews.
Info
Stonewall
Regie: Roland Emmerich,
129 Min., USA 2015;
mit: Jeremy Irvine, Jonny Beauchamp, Jonathan Rhys Meyers
Coming out + Coming of age-Story
Dabei blieb er aber seinem Ruf als Konstrukteur großer spekulativer Erzählungen treu. Bei „Stonewall“ kommt das nicht infrage: Hier geht es um unstrittige, gut dokumentierte Ereignisse der Zeitgeschichte. Also ziehen sich Emmerich und Drehbuchautor Jon Robin Baitz auf altbewährte Muster zurück: Sie legen ihren Film mit einigen Anleihen bei Finchs Film als persönliche coming out- und coming of age-story an.
Offizieller Filmtrailer
Im dekadenten Homo-Sumpf
Im Zentrum steht der fiktive, weiße Mittelstands-teenager Danny: Er ist mit dem Briten Jeremy Irvine attraktiv, aber nicht sehr glaubwürdig besetzt. Nachdem seine Affäre mit einem Schulfreund aufgeflogen ist, flieht Danny aus der Enge des ländlichen Indiana – immerhin mit einem Stipendium für die renommierte Columbia University in der Tasche – nach New York.
Dort landet er gleich im Herz des urbanen Molochs: Als er aus dem Bus steigt, steht er mitten im repräsentativ breit aufgestellten und auch ethnisch knallbunten Kosmos aus abgehalfterten Schwulen, aufgetakelten Transvestiten und obdachlosen transgender-Strichern. Das dürfte ziemlich genau dem entsprechen, was sich Dannys Farmer-daddy als dekadenten Homo-Sumpf vorstellt.
Versprengte Lesben mit Alibi-Funktion
Verstärkt wird die Klischeehaftigkeit der New Yorker Szene durch Emmerichs Inszenierung als fast chorartiges Ensemble. Darin erhalten nur Jonny Beauchamp als charismatischer lover Ray und Jonathan Rhys Meyers als gay liberation-Aktivist die Chance, ihre Figuren individueller auszugestalten. Ein paar versprengte Lesben haben reine Alibi-Funktion; ihr Fummel-glamour ist wohl zu gering.
Danny ist verwirrt, fasziniert – und stürzt sich mit Leidenschaft in diesen gay underground, der auch reichlich Erniedrigung bereit hält: Armut, Prostitution, Liebesverrat und Razzien, mit denen die korrupte New Yorker Polizei die schwule Szene regelmäßig heimsucht. Das gipfelt in Dannys Entführung: Der mafiöse „Stonewall“-Betreiber zwingt ihn zu sexuellen Dienstleistungen für einen grotesk verfetten, aber zahlungskräftigen Freier.
Eine große nächtliche street party
Dieses Erlebnis koppelt der Film direkt an das militante Aufbegehren der Club-Besucher, indem er Danny entgegen aller historischen Fakten zu dessen heroischem Initiator verklärt. Ähnlich verzerrend und plakativ werden auch die folgenden Krawalle, die tagelang dauerten, von Emmerich zu einer großen nächtlichen street party stilisiert.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung der Ausstellung "Homosexualität_en" im Deutschen Historischen Museum + Schwulen Museum, Berlin
und hier ein Beitrag über den Film “Der Kreis” – gelungenes Doku-Drama über Zürich als Schwulen- Mekka Europas in den 1950/60er Jahren von Stefan Haupt
und hier einen Bericht über den Film “Parada” – originelle Schwulen-Komödie aus Serbien von Srdan Dragojević
und hier einen Beitrag über den Film "Anonymus" - Literatur-Thriller über die Autorenschaft an Shakespeares Werken von Roland Emmerich.
Reaktionäre Dicke-Brillen-Träger
Ästhetisch schwankt die Inszenierung zwischen musical-Dramaturgie und -Ausstattung in den New Yorker Gruppen-tableaus und einem melodramatisch bis hysterischen Tonfall in Rückblenden; sie erzählen von Dannys erzwungenem outing, bevor er von Eltern und Schule verstoßen wird.
Dabei scheinen beide Sphären in verschiedenen Zeitebenen angesiedelt: Während im Greenwich Village zeitgemäßer hippie look und schrille Klamotten dominieren, scheinen in Dannys midwest-Heimat noch die 1950er Jahre fortzuleben – wobei man besonders reaktionäre Gestalten zuverlässig an ihren dicken Brillen erkennt.
Korsett erstickt Herzensanliegen
Damit wird “Stonewall” zur arg klischeesatten Zeitreise in eine Vergangenheit, die in vielen Teilen der Welt andauert: In mehr als 70 Staaten steht Homosexualität noch heute unter Strafe. Auch in den USA zählen 40 Prozent der jugendlichen Obdachlosen zur LGBT-Gruppe, wie vor dem Abspann eingeblendet wird.
Der nennt dann endlich die realen Anführer der Stonewall-Rebellion von 1969, die zuvor im Film nur als karikatureske Nebenfiguren vorkommen. Offenkundig hat sich Roland Emmerich, der sich aktiv für queere Anliegen engagiert, mit diesem von ihm selbst ko-finanzierten Film ein Herzensanliegen erfüllt. Doch das formale und inhaltliche Korsett des Kommerzkinos erstickt allen guten Willen.